Ich kenne dein Geheimnis
Großvater als Spielplatz für seine
beiden Enkeltöchter umgebaut hatte. Vor dem Umbau hatte der Wind durch die Bretter gepfiffen, um die Scheune ausreichend zu
belüften. Sonst hätte das häufig noch feucht geerntete Heu fermentieren und in Brand geraten können. Der Großvater hatte feste
Wände einziehen lassen, durch ein großes Fenster fielen Sonnenstrahlen, die den aufgewirbelten Staub wie goldgelbe Lichtpunkte
in der Luft tanzen ließ. Es roch immer noch durchdringend nach Heu. Die Mädchen liebten den süßlichen Duft und verbanden mit
ihm all die phantastischen Geschichten, |417| die der Großvater ihnen über den Heuschober erzählt hatte. Hier hatten sich heimlich Liebespaare und Schmuggler getroffen,
er hatte aber auch als Versteck für geheime Schätze gedient.
Genau dort, im Geheimversteck ihrer Kindheit, hatte ihre Zwillingsschwester Maria zum ersten Mal von ihrem Verlobten erzählt.
»Er wird mich von hier wegbringen und mich heiraten.« Vivy hatte ihr entgegengehalten, dass sie damit großen Kummer über die
ganze Familie bringen würde. Wie konnte sie einfach abhauen, noch dazu mit dem Sohn eines Tagelöhners? Doch Maria hatte geantwortet:
»Mich wird ja doch keiner vermissen.«
Vivy sah wieder ihr ironisches, fast grausames Lächeln vor sich. Bei diesem Gedanken fühlte sie einen Stich im Herzen, aber
nicht weil sie Sehnsucht nach ihrer Schwester hatte, sondern vielmehr als Ausdruck ihres schlechten Gewissens. Lange Zeit
hatte sie schlicht vergessen, dass sie überhaupt eine Schwester hatte, sie hatte sie einfach aus ihrem Leben ausgeklammert,
sogar der Name war ihr nicht mehr präsent gewesen. Aber jetzt, im Dämmerzustand zwischen Wachsein und Schlaf, mehr ein Gang
durch ihr Bewusstsein als ein echter Traum, war ihre Zwillingsschwester zurückgekehrt. War sie gekommen, um die Liebe zu fordern,
die sie nie bekommen hatte?
Toniolis Stimme riss sie aus ihren Gedanken: »Wir sind da, Baronessa.«
Vivy öffnete die Augen und sah aus dem Fenster. Draußen schien die Sonne.
Der Sekretär seiner Eminenz, ein hagerer junger Mann mit strengem Gesicht, empfing Vivy Sannazzaro in seinem Büro. Er hörte
ihrem Bericht aufmerksam zu, und als Vivy Sannazzaro |418| fertig war, stand er auf, ging zum Fenster, das auf den Hof führte, und schob den Vorhang etwas zur Seite.
Die Baronessa sah ihm schweigend zu, während sie einen handgeschriebenen Zettel aus der Tasche zog und auf den Schreibtisch
legte.
»Bitte.«
Der Sekretär nahm wieder Platz, griff nach dem Zettel und studierte ihn aufmerksam.
Er nickte ein paar Mal, las die Liste erneut, um die Namen zu verinnerlichen, dann leerte er den Inhalt eines chinesischen
Schüsselchens auf die Tischplatte, legte den Zettel hinein, zündete ihn an und zermalmte die Asche mit einem Briefbeschwerer
zu Staub.
Vivy fand sein Verhalten beängstigend. Erst jetzt schien ihr klargeworden zu sein, welches Risiko sie einging. »Ich habe zwei
Dinge auf dem Herzen«, sagte sie entschlossen und sah dem Sekretär fest in die Augen. »Wer steckt hinter den Erpressungen?
Ich will, dass diese Männer ein für alle Mal aus meinem Leben verschwinden. Dies würde uns beiden nutzen: Das Schutzgeld,
das sie verlangen, kann ich genauso gut der Kirche spenden.« Sie machte eine kurze Pause, um die Reaktion des Kirchenmannes
abzuwarten, der aber keine Miene verzog. »Die zweite Angelegenheit ist mir noch wichtiger: Ich will meine Enkel finden, damit
sie wieder bei ihrer Mutter leben können. Und ich will, dass dieser Santanna für den Mord an meinem Sohn Lupo und für die
Grausamkeiten, die er Smeralda und ihren Kindern angetan hat, zur Rechenschaft gezogen wird.« Eine Träne lief ihr über die
Wange. Sie tupfte sie mit einem Taschentuch ab und atmete tief durch, um die Fassung wiederzufinden. Vor den Augen eines Fremden
wollte sie stark bleiben.
Der Mann nickte. Alle Unnahbarkeit war aus seinem Gesicht gewichen. »Ich verspreche Ihnen nichts, Baronessa, aber |419| ich versichere Ihnen, dass ich alles tun werde, was in meiner Macht steht. Auch Seine Eminenz wird Ihnen beistehen. Die Wege
des Herrn sind unergründlich. Beten wir deshalb gemeinsam, dass sich die richtige Tür öffnen wird, damit sich Ihre Wünsche
erfüllen können.« Der Mann stand auf, warf ihr ein mitfühlendes Lächeln zu und öffnete die oberste Schublade einer Kommode
aus dem 16. Jahrhundert, die neben dem Schreibtisch stand. »Wissen Sie, kurz
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