Ich kenne dein Geheimnis
Literaten, verfasst in Paris.‹«
Vivy runzelte die Stirn. Das sagte ihr überhaupt nichts. »Und die Hieroglyphen?«
Auf Marias Gesicht malte sich ein rätselhaftes Lächeln: »Das sind keine Hieroglyphen, Baronessa. Ich habe mir lange den Kopf
zerbrochen, um herauszufinden, was die Zeichen bedeuten.«
»Und?«
»Nun, ich denke, ich habe es geschafft. Dazu brauchen wir einen Spiegel, ein Taschenspiegel reicht.«
Vivy ließ sich ihre Puderdose bringen.
»Glauben Sie, mit diesem ginge es auch?« Vivy reichte ihr den kleinen Spiegel in der Dose.
»Perfekt«, sagte Maria Majorana und hielt ihn über das Blatt, so dass Vivy die Schrift lesen konnte. »Schauen Sie. Was sehen
Sie?«
|412| Vivy setzte die Brille auf. »Zeichen, Zahlen oder etwas in der Art. Aber ich verstehe trotzdem nicht …«, sie zuckte enttäuscht
mit den Schultern.
Wieder lächelte Maria Majorana geheimnisvoll.
»Nachdem mir bewusst geworden war, dass die Inschrift in Spiegelschrift verfasst ist, genau wie die Aufzeichnungen von Leonardo
da Vinci, war die Entschlüsselung ganz einfach. Schauen Sie«, sie schob das Blatt etwas näher zu Vivy, »man kann den Satz
nur lesen, wenn man das Blatt gegen das Licht hält, oder eben mit Hilfe eines Spiegels. Der erste Teil des Satzes ist in französischer
Sprache verfasst, was den Hinweis auf das Pariser Tagebuch erklärt. Aber Vorsicht, geschrieben ist er in griechischen Buchstaben,
lautschriftlich verkürzt und in schlampiger Handschrift. Der zweite Teil ist Latein, aber wieder in griechischen Buchstaben.«
Vivy war jetzt völlig verwirrt. Sie hatte von Anfang an nicht verstanden, worauf Maria Majorana hinauswollte. Volfango d’Altinos
Beschreibung von Oliva Regalmici fiel ihr ein, sie hatte bei einem Abt Latein und Griechisch und bei einer Gouvernante Französisch
gelernt. Die Marchesa könnte durchaus die Urheberin dieses komplizierten Satzes sein.
»Ich lese Ihnen jetzt das Original und dann die Übersetzung vor«, sagte Maria Majorana stolz.
«Trouverais le trésor in putei media parte ante domum.
Du wirst den Schatz in der Mitte des Brunnens vor dem Haus finden«, las sie laut und deutlich.
Vivy lächelte. Das Rätsel war gelöst, endlich. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, sagte sie und schloss die Übersetzerin
spontan in die Arme. Für sie war Maria eine Botschafterin aus der Vergangenheit, die Volfango geschickt hatte, um ihr zu helfen.
Unglaublich, aber wahr. Chiara Bonelli hatte recht gehabt: Der mutige und kluge Edelmann aus dem |413| 18. Jahrhundert reichte ihr die Hand und wies ihr den Weg zu einem Schatz. Doch was war das für ein Schatz? Vivy war sich
sicher: Hier ging es um die Sicherheit ihrer Firma, ihrer Angestellten und auch um ihre eigene. Mit diesem Schatz würde sie
die dunklen Kräfte, die sie zerstören wollten, besiegen.
Vor ihrer Reise nach Florenz suchte Vivy etwas Entspannung im Rosengarten, um den sie sich meist selbst kümmerte. Er erinnerte
sie an jenen anderen Garten ihrer Kindheit. Hin und wieder hatte ihr Großvater die Mädchen dorthin mitgenommen und ihnen einige
Sorten erklärt: »Das sind die Königinnen des Gartens«, hatte er gesagt und auf die Kletterrosen gezeigt. »Die prächtigsten
aller Rosen, selbst im Winter sind sie wunderschön mit ihren bunten Beeren. Schaut mal, sind sie nicht herrlich? Die Rambler
wachsen wild, sogar unter Bäumen!«
Vivys Lieblingsrose war die »Albertine«. Ihr Großvater hatte ihr die Herkunft des Namens erklärt: Der Name stammte aus einem
Roman von Marcel Proust, »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«. Doch damals waren Vivy literarische Vorbilder egal, sie
interessierte sich nur für die üppigen aprikosenfarbenen Blüten, die so köstlich aussahen, dass man am liebsten hineingebissen
hätte.
Dem anderen Mädchen dagegen hatte die »Félicité Perpétuée« am besten gefallen, eine Sorte, die von einem Gärtner des Königs
Louis Philippe, Duc d’Orléans, gezüchtet worden war. Ihr Duft war so betörend aromatisch, dass er einen fast trunken machte.
Vor allem aber mochte sie die glänzenden dunkelgrünen Blätter und das Aufbrechen der Knospen, die erst rosé und voll erblüht
reinweiß waren. Vielleicht würde auch sie eines Tages aufblühen und genau so schön werden wie Vivy.
|414| Die Baronessa blieb vor einer »Albertine« stehen und versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen. Doch nach kurzer Zeit kehrten
die düsteren Gedanken zurück. Die
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