Ich kenne dein Geheimnis
Tanagra-Statue« genannt hatte.
»Tanagra? Was zum Teufel ist das denn?«, hatte sie gefragt. Picone hatte gelacht, und Smeralda wäre vor Scham am liebsten
im Boden versunken, obwohl der alte Bock sie bestimmt nicht hatte beleidigen wollen. Beim Gedanken an Picone und an all die
anderen, die es nur auf ihren Körper abgesehen hatten, wurde ihr übel. Wenn ihr Geheimnis auffliegen würde, würde sie wieder
in diesem Milieu enden. Eine Horrorvorstellung.
Anna Bechi saß am Frühstückstisch und spielte geistesabwesend mit dem Löffel. Sollte sie das dritte Marmeladenbrot noch essen,
das letzte, das noch auf dem Teller lag? Ihr Mann Giampiero Principini hatte sich mit einer Tasse grünen Tees ohne Zucker,
einem frisch gepressten Orangensaft und einem Magerjoghurt begnügt und las wie jeden Morgen ungerührt die Zeitung. Wie immer
Il sole 24 ore und den Corriere della Sera. Außer einem flüchtigen »Guten Morgen« hatten sie noch kein Wort miteinander gewechselt.
Das war nichts Ungewöhnliches in ihrer Ehe, die ersten Jahre einmal ausgenommen. Da hatte sich Giampiero von seiner besten
Seite gezeigt, |55| war zuvorkommend und liebevoll gewesen. Vor allem, um seinem Schwiegervater und Mentor, dem berühmten Genforscher Ambrogio
Bechi zu imponieren. Aber die Leidenschaft war schnell abgekühlt, besonders als Professor Bechi das Klinikum San Raffaele
verlassen hatte und in Pension gegangen war.
Voller Neid betrachtete Anna die gepflegten Hände und die perfekten Fingernägel ihres Ehemanns. Ihre Hände sahen nie so aus,
selbst nach einer Maniküre nicht. Sie brauchte immer etwas zwischen den Zähnen, und wenn keine Butterkekse in der Nähe waren,
dann kaute sie eben an den Fingernägeln oder rauchte eine Zigarette nach der anderen. Die gelben Flecken an ihren Fingern
waren noch das kleinere Übel. Giampiero hingegen war diszipliniert und ausgeglichen wie ein Zen-Meister. Dank eiserner Diät,
Tennistraining und Fitnessstudio war er trotz seiner achtundvierzig Jahre in Topform. All das neben seiner Tätigkeit als Neurochirurg
und seinen Forschungen im Bereich der Gentechnik.
Er war fast eins neunzig groß, hatte dunkle Augen, graumelierte Haare und für einen Mann ausgesprochen sinnliche Lippen. Der
klassische Verführertyp. Es gab nicht eine unter Annas Freundinnen, die sie nicht glühend beneidete. Natürlich wussten die
meisten nichts von der Gefühlskälte und der Teilnahmslosigkeit zwischen ihnen, geschweige denn von der fehlenden körperlichen
Nähe. Wann hatten sie das letzte Mal miteinander geschlafen? Sie konnte sich an das genaue Datum nicht erinnern, wusste nur
noch, wie schnell alles vonstattengegangen war. Im Dunkeln, in aller Eile und ohne ein zärtliches Wort. Giampiero hatte nicht
einmal gewartet, bis sie ausgezogen war. Er hatte sich auf sie gestürzt und war brutal in sie eingedrungen. Noch heute hatte
sie seine abfälligen Bemerkungen über ihren schlaffen Bauch und ihre biedere Unterwäsche im Ohr.
|56| Giampiero nahm einen weiteren Schluck Tee, ohne von der Zeitung aufzusehen. Er schien in seine Lektüre vertieft, aber Anna
wusste, dass er nur vermeiden wollte, sie essen zu sehen. Er konnte den Anblick einfach nicht ertragen. Sie hatte bereits
zwei Tassen Milchkaffee, zwei Brioche mit Marmelade und zwei Toast in sich hineingestopft und dachte gerade über einen dritten
nach. »Daran ist mein niedriger Blutdruck schuld«, sagte sie, wenn ihr Mann doch einmal hochblickte.
Verstohlen streckte sie die Hand nach dem Toast aus. Erst als sie hineinbiss, bemerkte sie, dass sie gar keinen Hunger mehr
hatte. Schon um fünf Uhr früh hatte sie sich in die Küche gestohlen, um heimlich die Reste der wunderbaren Sachertorte zu
essen, die ihre Köchin Rosy gebacken hatte. Für Notfälle hatte Anna im Schlafzimmerschrank sogar immer eine Schachtel Pralinen
und eine Flasche Fernet versteckt.
»Um Gottes willen«, Giampiero faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Dann musterte er sie verächtlich.
Anna blickte verschämt auf den Teller. Sie hatte nicht gedacht, dass er sie heimlich beobachten würde.
»Anna, bitte, ich sage das nur zu deinem Besten. Du weißt, dass ich dich mag. Aber du musst aufhören, so viel zu essen, das
tut dir nicht gut …«
Das Einzige, was Anna aufhorchen ließ, waren die Worte: »Du weißt, dass ich dich mag.« Einen Augenblick lang war sie versucht,
ihm zu glauben. Sie spürte, wie es in ihrer Nase zu
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