Ich kenne dein Geheimnis
Nichts zu verschwinden.
Eine halbe Stunde später war sie wieder eingeschlafen.
Dieses Mal schien die Tür aus massivem Holz zu sein, aber als sie die Hand ausstreckte, um sie zu berühren, bemerkte sie,
dass sie ins Nichts griff. Frustriert versuchte sie es ein zweites Mal. Wieder nichts. Absolut nichts. Konzentriere dich!
Sie versuchte ruhig zu atmen und fixierte den roten Spion, der über dem Pfosten leuchtete. Sich der Angst zu unterwerfen würde
nichts helfen. Ganz allmählich kehrte das Bild zurück. Sie wartete, bis die Konturen nicht mehr zitterten und die Vision stabiler
wurde, dann streckte sie ganz langsam wieder die Hand aus. Der Sog war gewaltig. Anders als erwartet, schoss sie nicht nach
vorne, sondern nach hinten und das in einem unkontrollierbaren Tempo. Weit und breit nichts, wo man Halt finden konnte, im
finsteren Gang dieses Zuges, in den sie nicht eingestiegen war, zumindest erinnerte sie sich nicht daran. Weiter ging die
Fahrt, Waggon für Waggon, bis sie wieder an einer Tür ankam, die genauso aussah wie die erste. Einen Moment lang dachte sie,
es sei die gleiche Tür und sie hätte sich alles nur eingebildet. Doch dann bemerkte sie, dass die Lampe dieses Mal grün leuchtete.
Zum ersten Mal keimte Hoffnung in ihr auf. Auf der anderen Seite der Wand musste jemand sein. Sie hörte ein Wimmern, nein,
es klang eher wie ein Röcheln. Das Geräusch machte ihr Angst, obwohl es ihr seltsam vertraut erschien. Sie hatte es vor
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vielen Jahren einmal gehört, im Sommer, auf dem Bauernhof der Großmutter. Der Großvater hatte ihr verboten, das Schlachthaus
zu betreten, aber sie war mit einer Freundin trotzdem hineingegangen. An einem Eisenhaken an der Decke baumelte ein Schwein.
Es schrie wie ein Neugeborenes. Unter dem Tier lag ein fleischiges Etwas in einer Blutlache. Es zuckte wie ein Fisch am Haken.
Angeekelt , aber auch neugierig gingen sie näher. Das am Boden liegende Etwas war die Zunge des Schweins. »Für die Katzen« , hatte der Großvater gesagt, der wie aus dem Nichts neben ihnen aufgetaucht war. Doch die Erklärung interessierte sie schon
nicht mehr, sie hatte die Flucht ergriffen. Ihre Freundin hatte sie sich selbst überlassen. Noch von weitem hatte sie das
markerschütternde Geschrei gehört. Es war das erste Mal, dass sie die Freundin allein gelassen hatte, doch sie hatte sich
damit getröstet, dass es nie wieder vorkommen würde. In diesem Moment konnte sie noch nicht wissen, dass sich die Situation
im folgenden Jahr wiederholen würde.
Was hatte sie nicht alles versucht, diesen schrecklichen Gedanken und die diffusen Schuldgefühle beiseitezuschieben, die sie
seitdem bis in den Schlaf verfolgten. Sie versuchte vergeblich, die Türklinke herunterzudrücken. Der Knall der zurückschnellenden
Klinke traf sie wie eine Ohrfeige. Obwohl die grüne Lampe »offen« signalisierte , war die Tür verschlossen. Sofort kehrten Frustration und Angst zurück, eine Angst, die sie zuvor noch nie erlebt hatte. Aber
dieses Mal würde sie nicht flüchten. Sie nahm kurz Anlauf und trat mit aller Kraft gegen die Tür. Zu ihrer größten Überraschung
ging sie auf. Ihr Erstaunen währte allerdings nur den Bruchteil einer Sekunde und schlug dann in panische Angst um: Im Bad
lag eine nackte Frau, die gerade ein Kind gebar. Der Boden war mit einer klebrigen roten Masse bedeckt. Blut? Sie zitterte
am ganzen Körper und ging etwas näher. Sie kannte die Frau. Sie kannte jede Pore ihres Körpers, jeden noch
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so entlegenen Gedanken. Sie kannte ihre Träume und ihre Ängste. Einen Augenblick glaubte sie, wieder im Schlachthaus ihres
Großvaters zu stehen, wieder spürte sie dieselbe Abscheu, dieselbe Neugier. Sie überwand ihre Angst, beugte sich nach unten
und warf einen verstohlenen Blick zwischen die Beine der Frau. Das war kein Kind, sondern ein Stück blutendes Fleisch. Noch
bevor sie sich angeekelt abwenden konnte, rief jemand ihren Namen.
»Chiara!«
Es war Lauras Stimme. Ihre Freundin aus Kindertagen rief aus weiter Ferne. Chiara wusste, dass sie sie nie erreichen würde.
Irgendwo in Sizilien, 2009
Maria Rosalia betrat das Schlafzimmer. Nachdem sie das kleine Tablett mit der dampfenden Tasse auf den Eichenholzschreibtisch
gestellt hatte, ging sie zum Fenster, um den Rollladen hochzuziehen.
» Buongiorno , nonna
. Hier ist dein Kaffee, entkoffeiniert, wie der Doktor gesagt hat.« Sie sprach Italienisch mit einer Mischung aus
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