Ich kenne dein Geheimnis
beruhigt. Ein gesundes Kind mit einem Trennungstrauma. Manchmal lag Amanda nächtelang wach und malte sich
aus, was der Kleine im Waisenhaus durchgemacht hatte. Auch die Umstände, wie sie zu ihrem Pflegekind gekommen war, ließen
ihr keine Ruhe. »Bei mir hat er es besser«, sagte sie sich immer wieder, um ihr Gewissen zu beruhigen.
Während sie vor ihrem Haus parkte, fiel ihr unvermittelt der Streit mit Spargi ein. Schlimmer hätte der Tag kaum beginnen
können. Ganz zu schweigen von dem anonymen Brief. Als sie aus dem Auto stieg, fühlte sie sich unendlich einsam, doch sie zwang
sich, dieses Gefühl zu unterdrücken. Sie durfte sich keine Schwäche erlauben, Brando brauchte sie. Sie spürte, wie ihr die
Tränen in die Augen stiegen. Nein, jetzt nicht weinen. Wie sehr hatte sie sich ein Kind gewünscht. Für ein Kind war sie zu
allem bereit gewesen. Und dieses »alles« war ihr von Pelori auf einem Silbertablett serviert worden. »Er ist fünf Jahre alt
und schön wie ein Engel«, hatte der bekannte Politiker am Telefon gesagt, der ihr vor Jahren auf einem Fest bei Freunden vorgestellt
worden war. Damals waren ihr vor Glück die Knie weich geworden, eine Welle der Freude hatte sie erfasst. Aber inzwischen empfand
sie nicht mehr nur |88| Dankbarkeit für Pelori, durch den sie auch Franco Spargi kennengelernt hatte. Ohnmacht und Wut waren heute mindestens ebenso
stark. Es hatte ihr noch nie gefallen, in jemandes Schuld zu stehen, auch wenn sie sich eingestehen musste, dass sie ohne
Pelori weder zu einem Pflegekind gekommen noch eine erfolgreiche Geschäftsfrau mit eigenem Laden wäre. Eine Nobelboutique
wäre für immer der unerreichbare Wunschtraum einer jungen Frau geblieben, die zwar viel wollte, der aber die finanziellen
Mittel fehlten.
Als sie damals den kleinen Brando vom Waisenhaus abgeholt hatte, hatte die Direktorin ihr gesagt: »Er ist ein guter Junge,
aber er braucht unendlich viel Liebe und Hingabe.« Amanda hatte ihr mit glückseligem Lächeln versichert, dass Brando bei ihr
in besten Händen sei, sie würde alles für ihn tun. Als sie jetzt ängstlich den Schlüssel ins Schloss steckte, fragte sie sich
wie so oft: War die Bürde der Verantwortung doch zu schwer? Hatte sie sich überschätzt?
Gegen elf füllte sich die Boutique. Viele Kundinnen kamen aus reiner Neugier und setzten sich erst einmal an die Bar, um den
neusten Klatsch und Tratsch auszutauschen. Die meisten warfen zusammen mit ihren Freundinnen dann aber doch einen Blick auf
die Kollektionen. »Es gibt zwei Situationen, in denen die weibliche Solidarität immer hervorragend funktioniert: wenn sie
verlassen worden sind oder wenn es darum geht, Kleider oder Schmuck zu kaufen«, hatte Amanda einmal zu Franco gesagt, der
es hasste, wenn die Kundinnen aus reiner Neugier durch den Laden streiften. »Du wirst sehen, früher oder später kaufen sie
doch«, hatte sie ihn beruhigt, und sie sollte recht behalten. Ihre Prophezeiungen hatten sich fast immer bewahrheitet.
»Elfhundert Euro!«, Paola Tellini war entsetzt. Die Anwältin |89| hatte einen Blick auf das Preisschild des eleganten schwarzen Etuikleids geworfen. Ihre Freundin Elsa Marchini, eine erfolgreiche
Unternehmerin, erwiderte trocken: »Besser elfhundert Euro ausgeben, meine Liebe, als aussehen wie alle anderen. Die Konkurrenz
schläft nicht. Hast du das Dinner im Jagdclub vergessen? Die Polli und die Russo sahen in ihren weißblauen Gehröcken für fünfundsechzig
Euro aus wie Zwillinge, die man nach der Geburt getrennt hat.«
»Sehen Sie? Was habe ich Ihnen gesagt?« Titti, die dem Gespräch der beiden zugehört hatte, lächelte Smeralda und Anna freundlich
an. Die Standardargumentation, um noch unschlüssige Kundinnen zu überzeugen. Smeralda nickte höflich, während Anna immer noch
sinnierte, warum Amanda aus dem Geschäft gestürmt war, ohne sie richtig zu begrüßen. Da stimmte etwas nicht. Als die Tellini
und ihre Freundin weitergegangen waren, wandte sie sich an Titti: »Probleme mit Brando?«
Titti seufzte und zuckte mit den Schultern. Amanda konnte es nicht ausstehen, wenn in der Boutique von ihr oder ihrem Sohn
gesprochen wurde. Die Chefin erfuhr alles, und wen sie beim Tratschen erwischt hatte, der flog. Titti vermutete, dass zwischen
den Kleidern Mikrophone versteckt waren, vielleicht reichten auch schon die Kameras aus, die überall installiert waren.
»Deshalb will ich keine Kinder. So sehr sich eine
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