Ich kenne dein Geheimnis
morgen
hatte sie einen anstrengenden Tag vor sich. Doch die Lektüre der Memoiren ihres Vorfahren hatte sie ihre Müdigkeit vergessen
lassen. Jedes Mal, wenn sie in dem Manuskript las, fand sie neue faszinierende Details, die sie immer wieder in ihren Bann
zogen. Volfango d’Altinos Mut und Unerschrockenheit, sein Leben als Edelmann und Pirat, der nicht nur die Welt, sondern auch
die Kirche herausforderte, hatten etwas Heroisches, Mythisches. Er war nicht gegen das Gesetz, er war das Gesetz, das Schicksal
hatte zu gehorchen. Aber das war es nicht allein. Wenn sie seine Lebensgeschichte las, fühlte sich Vivy weniger allein, so
als wäre die ganze Familie noch bei ihr. Ein seltsames Gefühl, das sie mit niemandem teilte, aber auf das sie nicht verzichten
konnte. Es gab ihr die Kraft, weiter voranzugehen. Nachdem sie sich die müden Lider massiert hatte, setzte sie ihre Lektüre
fort. Sie wollte zumindest diese Seite zu Ende lesen.
Während ich diese Zeilen schreibe, brennt das tief ins Fleisch eingeprägte Zeichen des Feuers immer stärker. Ein Hinweis,
dass die Venezianer in der Nähe sind. Sie werden keine Ruhe geben, bis sie mich endlich in ihrer Gewalt haben. Aus diesem
Grund möchte ich hier zu Papier bringen, wo ich meine Schätze versteckt habe: die Smaragde, Diamanten , Saphire und Rubine aus Venedig, dazu das Geld, das mir wohltätige Gönner und gottlose Schuldner zu treuen Händen anvertraut
haben. Der geheime Ort, an dem ich die Schätze verborgen habe, wird nie entdeckt werden, es sei denn, der Sucher erweist sich
als würdig, die
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Hinweise zu deuten, die ich meinem Sohn und Erben Lupo hinterlassen habe. Er wiederum wird sie an die folgenden Generationen
weitergeben. Nur wer dieses Manuskript in Händen hält, wird die Hinweise erkennen können.
Vivy kniff die Augen zusammen. Die nun folgenden Zeilen waren so klein geschrieben, dass man sie kaum entziffern konnte. Sie
hielt das Manuskript ganz dicht vor die Augen, doch auch das half nichts. Deshalb stand sie auf, um das Vergrößerungsglas
aus der Schreibtischschublade zu holen. Im Licht der Halogenlampe studierte sie die Zeilen wieder und wieder …
Panormi. Bilinguis Infcriptio duabus Bafibus aequaliter infculpta Phoenicia five Punica effe non ambigitur sed et in quodam
Parifino Litterario Diario interpretationem invenire poffumus.
Oliva di Regalmici war so glücklich wie noch nie. Das war das Leben, von dem sie immer geträumt hatte, frei wie der Wind,
ohne Zwänge und Verpflichtungen gegenüber Familie, Kirche und Gesellschaft, die sie ohnehin nie interessiert hatten. Auf Nächte
voller Leidenschaft folgten Tage voller Abenteuer. Wenn sie auf die Jagd gingen, band sie sich die Brüste ab, streifte das
Herrenhemd über und schlüpfte in die Hose, die die Schneiderinnen des Barons für den vermeintlichen Don Francesco angefertigt
hatten. Sie fasste die Haare zu einem Pferdeschwanz zusammen und band sich ein Tuch vor Nase und Mund, dass man von ihrem
Gesicht nur noch die Augen erkennen konnte. Mit dem Hut auf dem Kopf stellte sie sich vor den Spiegel und übte männliche Gesten.
Volfango konnte sich nicht an ihr sattsehen: In Männerkleidung fand er seine Geliebte noch begehrenswerter. Auch Oliva schien
dieses Spiel Tag für Tag mehr zu genießen.
|244| Um das Verwirrspiel nicht zu gefährden, ließ der Baron für die Marchesa doppelte Mahlzeiten kochen, den Rest verfütterte er
an die Hunde. Aber auch Balà bekam einen Teil ab, so dass ihm bald keine Hose mehr passte. Unterdessen waren in der Stadt
und der Umgebung Gerüchte laut geworden, dass ein vermeintlich unehelicher Sohn bei Barone d’Altino wohnte und mit ihm durchs
Land streifte, auf der Suche nach Beute. Marchesa Oliva di Regalmici dagegen hielt man für die neue Frau an Volfangos Seite,
nachdem Eufrasia ins Kloster gegangen war. Der kleine Lupo wurde von der Amme und den Dienerinnen aufgezogen. Die Frauen überboten
sich in mütterlicher Fürsorge, sangen ihm Lieder und verwöhnten ihn über alle Maßen. So wuchs der Säugling wohlbehütet und
geborgen zu einem freundlichen Jungen heran. Die Abwesenheit seiner Mutter und die fehlende Fürsorge seines Vaters schienen
ihm nichts auszumachen. Ab und zu besah sich Volfango seinen Sohn, aber nur, um sich seines Wohlergehens zu vergewissern.
Sein ganzes Leben drehte sich nur um Oliva. Er vergötterte diese Frau, die sich mit Leichtigkeit immer wieder von einer
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