Ich kenne dich
sie betrunken ist, sie stößt dann schon mal ihre Schulter gegen meine, erzählt mir einen Witz, offenbart mir ein Geheimnis. Sie wischt den Hals der Flasche an ihrem Ärmel ab und bietet sie jedem an, der sich auf die nächste Bank setzt.
Die anderen Mädchen wollen nie rüberkommen und sich zu uns setzen. Denen sind wir zu alt.
Das letzte Mal, als wir verabredet waren – ungefähr vor einer Woche – , tauchte Emma nicht auf. Ich wartete bis kurz vor Geschäftsschluss, das Café war schon fast leer. Die Servicekräfte dort tragen schwarze Kleider und weiße Schürzen – die Karikatur einer Magdtracht, was vielleicht erotisch klingen mag, es aber nicht ist. Die Kleider sind aus Teflonstoff und übersät mit Fett- und Kaffeeflecken. Die Serviererinnen gleiten zwischen den Tischen durch, wischen sie ab und stellen die Stühle auf die Tische. Ich war in Gedanken weit weg und dachte an Würmer, lang wie eine Süßwasserforelle, lang wie ein Skateboard sogar, und die junge Frau hinter der Theke rief zu mir herüber – erklärte mir, dass ich jetzt die letzte Gelegenheit hatte, etwas zu bestellen, weil sie abrechnen wollte. Ich schüttelte den Kopf. Unter ihren Armen waren nasse Ränder.
Ich schwitzte auch. Ich fragte mich, was mit Emma war, warum sie nicht gekommen war. Bestimmt, weil der Jahrestag kurz bevorstand, dachte ich. Das Gedenken daran. Das plötzliche Wiederauftauchen von Blumen am Schulzaun, in den Schaufenstern der Bank und der Post. Man konnte keine Zeitung aufschlagen, ohne dass einem Chloe entgegenlächelte. Fröhlicher Valentinstag. Der Schutzheilige der Liebenden und von toten Schülerinnen. Das musste Emma nervös machen. Launisch. Vielleicht hatte sie mit jemandem reden wollen. Ich ignorierte die Thekenkraft, die grummelnd die Kassenschublade zuknallte, und wartete.
»Du bist nicht gekommen, das letzte Mal«, sage ich. »Ich habe eine Ewigkeit gewartet.«
Wenn man sagt, dass man kommt, sollte man sich blicken lassen. Keine Frage. So war es bei mir und Chloe – trotz all ihrer Fehler hat sie mich nie versetzt. Das zwischen Chloe und mir war was Seltenes und Besonderes, und es ist nicht wirklich fair, Emma auf diese Art mit ihr zu vergleichen, aber trotzdem bin ich angepisst.
Emmas Augen kleben an der Glotze, und sie hat diesen Tunnelblick, den Leute kriegen, die in das Geschehen auf der Mattscheibe vertieft sind – unbelebt, abwesend, dämlich.
»Ich saß da wie bestellt und nicht abgeholt. Ich kam mir vor wie ein Trottel.«
»Es gab einen Notfall auf der Arbeit«, entgegnete sie. »Ich musste länger machen und aushelfen.«
»Ein Notfall?«
Ich glaube ihr nicht. Emma »arbeitet« nicht. Sie bezieht eine Invalidenrente wegen ihrer Depressionen, Angstattacken und Phobien. Sie arbeitet ehrenamtlich sechzehn Stunden in der Woche in einer Hunderettungsstation, und weil die sie dort nicht bezahlen können, darf sie sich Klamotten aussuchen, die Leute für den Wohltätigkeitsladen spenden.
Emma nickt. »Ein paar Welpen sind in einer Reisetasche hinter einem Bürogebäude ausgesetzt worden. Ich habe sie nur bemerkt, weil einer gefiept hat, als ich vorbeiging. Sonst wäre ich direkt daran vorbeigelaufen. Ich habe sie aus der Tasche genommen – sie waren neugeboren – , und ich musste warten, bis der Tierarzt kam, der Notdienst hatte.« Sie dreht sich zu mir und lächelt plötzlich. »Wir haben nur vier von ihnen verloren.«
»Das ist gut«, sage ich. Am liebsten würde ich sie fragen, was sie mit den toten Welpen gemacht haben, aber ich lasse es sein.
Emma nickt, dreht das Gesicht wieder zum Fernseher und rollt die nächste Zigarette.
»Ich dachte, du wolltest damit aufhören?«
Sie schneidet eine Grimasse. »Dafür ist es zu spät. Ich habe schon in der Schule damit angefangen. Chloe hat mir immer welche angeboten. Wahrscheinlich werde ich für immer am Glimmstängel hängen. Je früher man damit anfängt«, sie sog gierig an dem Stäbchen, »umso schwieriger ist es, damit aufzuhören. Ich rauche jetzt mehr als mein halbes Leben lang.«
»Ich auch«, sage ich. »Ich frage mich, wie viele Leute sie noch angefixt hat.«
Emma dreht den Kopf und starrt mich an, als hätte ich etwas Schockierendes und Lästerliches gesagt. Die Nationwide-Filiale auf der Hauptstraße hatte drei Jahre lang ein gerahmtes Porträt von Chloe und einen immer frischen Strauß Juliet-Rosen im Schaufenster. Niemand darf etwas Schlechtes über Chloe sagen. Chloe war schön geboren, hatte keine »Hässliches
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