Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kenne dich

Ich kenne dich

Titel: Ich kenne dich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jenn Ashworth
Vom Netzwerk:
die meiste Zeit keine Ahnung, was vor sich ging, oder sie hat zumindest so getan.«
    »Ich wusste gar nicht, dass du bei ihm warst«, sage ich, und Emma zuckt wieder mit den Achseln und fragt mich, ob noch Wein da sei. Wir richten uns auf der Couch ein und beobachten uns gegenseitig genauso wie den Fernseher.
    Schon seltsam, dass Emma und ich in Kontakt geblieben sind. Oder auch nicht, wenn man genauer darüber nachdenkt. Ich habe sonst zu niemandem aus der Schule noch Kontakt, aber Emma war die einzige andere Person, die Chloe wirklich kannte. Das heißt nicht, dass sie Chloe so nahestand wie ich, sondern nur, dass es logisch ist, dass wir zwei zusammenfanden.
    Es geschah, ohne dass es eine von uns geplant hatte. Ich floh vor Barbara, als ich sechzehn war. Ich wollte unbedingt weg – einerseits von ihr und andererseits von Terrys Leuten, die immer noch verzweifelt versuchten, uns für den Exklusivbericht über Chloe in die Sendung zu zerren. Ich kam nicht weit. Ich hatte letzten Endes das Gefühl, ich musste vor Ort bleiben und die Dinge im Auge behalten. Alle waren immer noch so erschüttert über den Verlust von Chloe. Es war zwei Jahre her, und nichts war normal. Also lief ich weg, kam aber nur vier Meilen weit durch die Stadt, sprach mit einem Jugendberater, bekam diese Wohnung, fand einen Job in dem Einkaufszentrum auf der anderen Straßenseite und lebte mich ein.
    Ich fing an, mich wieder »Laura« zu nennen, änderte meinen Familiennamen und redete mit niemandem.
    Dann, eines Tages, sah ich Emma. Ich zog gerade die Kapuze meines Dufflecoats ins Gesicht, um mich vor dem Wind zu schützen und mir eine Zigarette anzuzünden. Ich stand halb drinnen, halb draußen im Eingangsbereich vor dem Hochhaus, als Emma in einem Sturm aus Parfüm und klirrenden Armreifen aus Metall und dem Klappern von kniehohen Stiefeln direkt an mir vorüberging. Ich hätte sie berühren können, ohne Weiteres. Sie war in Begleitung von zwei Frauen und gackerte sich durch eine Geschichte über einen Türsteher, der sie vor dem Nachtclub hochgehoben und auf der Straße herumgewirbelt hatte, mit so viel Schwung, dass ihr Rock hochwehte und ihr Slip zu sehen war, während die Taxireihe das Licht aufblendete und hupte.
    Heute behauptet sie, dass sie mich nicht bemerkt hat, aber ich weiß, das ist Blödsinn. Ihr Blick huschte kurz zu mir. Ihr Make-up war verschmiert. Sie trug lange, baumelnde Ohrringe, und alle drei umwehte der freundliche Dunst von Alkohol. Ich wartete im Eingang, bis sie vorüber waren und um die Ecke bogen. Ich fühlte mich wackelig und unwirklich. Ich zitterte. Am liebsten hätte ich sie geschüttelt. Warum hatte sie das alles – Freundinnen, Abende in Nachtclubs, die Ohrringe und das Parfüm und das betrunkene Gelächter – , wenn es nicht möglich war, niemals möglich sein würde, dass ich das alles hatte? Freundinnen. Sie hatte Freundinnen. Eine ganze Weile lang beobachtete ich, wie weit die Waage in ihre Richtung ausgeschlagen hatte, und am liebsten hätte ich sie umgebracht. Ihr die Ohrringe herausgerissen und ihr mein Geheimnis ins Ohr gebrüllt und sie getötet.
    In jener Nacht fing ich an, von Chloe zu träumen. Ich hatte sie nicht vergessen. In meinen Träumen glitt sie über Eis. Es waren immer stumme Träume – als hätte jemand den Ton in einem Film ausgeschaltet – , aber ich konnte sie lachen sehen und beobachten, wie ihre blauen Lippen sich bewegten, die Bewegungen nachverfolgen, die sie machte, während sie schrie. Es waren keine guten Träume.
    Ein oder zwei Jahre, nachdem ich Emma vor meinem Wohnblock gesehen hatte, schickte sie mir eine Postkarte. Sie war an mich adressiert – an meinen alten Namen in der neuen Wohnung. Ohne Hausnummer, aber der Postbote kannte mich, und die Karte kam sicher bei mir an. Natürlich kannte er mich – ich bin schon seit Jahren hier, halte die Stellung in diesem feuchten, hohen Kasten, während alle anderen weiterziehen. Er ist ein anständiger Kerl. Er hat nie was durchblicken lassen, mir nie Fragen gestellt, mich nie angestarrt, nie Terrys Leuten einen Tipp gegeben. Ich weiß nicht, ob es Mitleid ist oder Professionalität, aber so oder so bin ich dankbar dafür. Das Motiv auf der Postkarte war eine Ansicht vom Bahnhof. Miniaturnarzissen und Efeu in Holzbottichen auf dem Bahnsteig. Keine dreckigen Tauben. Keine Betrunkenen. Keine Penner. Ein sonniger Tag.
    Nachdem ich sie gelesen hatte, starrte ich auf das Motiv, bis meine klammen Hände die Karte verbogen. Der Zug,

Weitere Kostenlose Bücher