Ich kenne dich
der am Bahnsteig wartete. Ihre Handschrift. Poststempel. Briefmarke – nicht der Kopf der Queen, sondern ein Rotkehlchen auf dem Griff eines Spatens, der in einem Erdhügel steckte. Ich fragte mich, ob das was zu bedeuten hatte. Ob sie versuchte, mir damit etwas mitzuteilen. Außerdem war sie auch eine Lügnerin. Eine hinterhältige, wie Chloe. Sie war nicht so betrunken gewesen, dass sie mich nicht erkannt hatte, nicht so betrunken, dass sie sich nicht den Wohnblock gemerkt hatte, in dem ich wohnte.
Emma ist gar nicht so dumm, wie sie aussieht.
Wir gehen neuerdings öfter zusammen einen trinken. Es ist nicht gerade das, was man als »geselliges Beisammensein« bezeichnen würde. Wir machen Ausflüge in den Park, zu Debenhams. Führen uns gegenseitig auf Touren durch die Topographie unserer Erinnerungen.
»Schau mal«, sagt sie dann. »Hier haben Chloe und ich uns zum ersten Mal Ohrlöcher stechen lassen.«
Ich muss sie dann in den HMV bringen, nur um mitzuhalten, und ihr die Stelle zeigen, wo ich die Wachleute ablenkte, indem ich den Kameras meinen neuen BH präsentierte, während Chloe mit der zweiten Staffel von Dawson’s Creek unter ihrem Pullover aus dem Laden rannte. Emma sah es sich geduldig an und schleifte mich dann zu Boots, um mir genau die Marke des kristallweißen Glitters zu zeigen, den Chloe gern zu besonderen Anlässen über den Augenbrauen auftrug. Wie an Silvester.
Emma kommt nicht zu mir, sondern wir treffen uns ein- oder zweimal im Monat im Brucciani, einem Café im Stil der Dreißiger, das wir uns ausgesucht haben, weil es fast genau in der Mitte zwischen ihrer Wohnung und meiner liegt. Ich muss als Erste da sein und für uns bestellen – wenn sie von außen durch das Schaufenster sieht, dass ich nicht da bin, macht sie auf dem Absatz kehrt und geht wieder nach Hause. Wir reden nicht viel. Normalerweise sitze ich ihr gegenüber, betrachte ihre ungewaschenen Haare und matten Augen und versuche zu erraten, was sie gerade denkt. Sie sieht jetzt anders aus.
Ich denke an die anderen beiden Frauen – ihre Freundinnen. An die Schminke und die Stiefel und die Ausgehklamotten. Wie sie sich mit den Türstehern anfreundeten. Heute ist Emma nicht imstande, einen festen Job zu behalten oder die Kellnerin anzusehen, wenn sie ihren Tee bezahlt. Ich weiß nicht, wo ihre Freundinnen jetzt sind. Ich weiß nicht, ob sie immer noch gerne trinkt, tanzt, einen Döner isst auf dem Nachhauseweg. Ich glaube nicht, dass sie einen Freund hat. Ob sie auf Frauen steht? Ich denke an die Fotos, die ich von Chloe gemacht habe, und frage mich, ob sie Emma jemals die Kamera in die Hand gedrückt hat. Ich versuche, mir vorzustellen, wie sie sich küssen, wie ihre Münder nass gegeneinanderpressen. Es funktioniert nicht. Emma hasst es, angefasst zu werden – es ist, als wäre sie überall wund.
Bei unseren Treffen im Brucciani versuchen wir, Smalltalk zu machen wie normale Leute. Emma erkundigt sich nach meinem Job. Ich erkundige mich nach ihrer Familie, zu der sie, glaube ich, keinen Kontakt mehr hat. Es ist immer eine Erleichterung, wenn die Bedienung mit dem Tablett und dem Tee kommt. Das sorgt für ein paar Minuten Ablenkung, die den beiden Teekännchen aus Metall gewidmet werden, der Kondensation auf dem aufklappbaren Deckel, der verbrühten Stelle am Handballen, wenn ich den Tee eingieße und er auf meine Untertasse spritzt. Ich nehme diese Minuten dankbar an und wische den Tisch mit Servietten trocken, sorgfältiger, als nötig ist.
Die meiste Zeit sitzen wir schweigend da. Oft geben wir auf und flüchten nach draußen, über den Winkley Square und zurück in den Park. Den Springbrunnen gibt es noch, genau wie den Steingarten und den japanischen Wassergarten und den Prunkbau oben auf dem Hügel. Wir setzen uns auf eine Bank, und meistens steckt Emma mir einen Zehner zu und schickt mich in den Spirituosenladen. Sie bezahlt immer, weil sie nicht mit Fremden reden möchte: eine ihrer Phobien. Das ist der Grund, warum sie keinen Job findet, für den sie bezahlt wird. Nicht mal ich bin so schlimm. Ich nehme das Geld und komme zurück mit einer kleinen Flasche Wodka oder ein paar Bierdosen unter meiner Jacke, und wir sitzen dann fast den ganzen Nachmittag so da. Selbst im Regen: Wasser bringt uns nicht um. Manchmal sehen wir andere Mädchen, die dasselbe machen wie wir, und wir rufen zu ihnen hinüber und bieten ihnen Zigaretten an und warten, ob sie kommen und uns Gesellschaft leisten. Emma ist selbstbewusster, wenn
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