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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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ihn zwischen Kinn und Schulter. Sobald ihre Hände wieder frei waren und umherfliegen durften, entspannte sie sich spürbar. Dann lief sie von einem Zimmer ins andere, und ihre Hände flogen nur so.
    Wie ein Truck denken? Trucks denken nicht. Trucks bewegen sich. Trucks schlittern. Ein hellblauer Truck kam auf meine Schwester und mich zugeschlittert.
    Vor langer Zeit haben Ivy und ich mit Joe und Tom im Heuschober Wahrheit oder Pflicht gespielt. Ivy hat verloren, und Joe hat ihr eine Aufgabe gestellt. Keine Ahnung, was es war, jedenfalls hat es Ivy nicht gereicht.
    »Das nennst du eine Herausforderung?«, sagte sie zu Joe. »Dass ich nicht lache!«
    »Okay«, sagte Joe. »Dann stell dich mal ans Fenster.«
    Sie zögerte. Ivy hasste jede Art von Höhe. Wir alle wussten es, aber würde sie es zugeben? Nein? Aus dem glaslosen Fenster sah man hinunter auf den Abhang, wo Brombeerbüsche wucherten.Dieses unverglaste Fenster war eher so etwas wie eine Tür. Es begann am Boden des Heuschobers. Es war immer schon offen gewesen, solange ich mich entsinnen kann, es ging steil hinunter auf den Abhang mit seinen dornigen Brombeerbüschen und den Steinen, die das kleine Quellhaus umgeben. Nichts, was einen Fall aufhalten würde.
    »Geh schon«, sagte Joe. »Und bleib zehn Sekunden lang am Fenster stehen. Ich stoppe die Zeit.«
    »Bist du ein Mann oder eine Maus?«, spottete Ivy. »Weiter.«
    »Weiter?«
    »Weiter. Gib dein Bestes.«
    Im Dunkeln sahen Ivy und Joe einander an. Es gab nur eins, wovor meine Schwester Ivy sich fürchtete: Höhe. Sie hatte Angst, von mehr als sechs Heuballen zu springen, wenn wir unsere Festungen gebaut hatten, Angst, auf dem Schulhof zu schaukeln, Angst vor Treppen ohne Geländer, Angst vor dem kahlen Gipfel des Kahlen Berges in den Adirondacks. Jedes Mal, wenn ich an jenen Abend im Heuschober denke, habe ich ihn dunkler in Erinnerung. Damals habe ich Ivy angesehen, wie man einen Fremden im Dunkeln ansehen würde. Sie war kein Mensch mit festen Umrissen und Grenzen mehr. Sie war nur noch ein Wesen, ein Wesen mit Höhenangst.
    »Und jetzt häng dich ans Schaukelseil«, sagte Joe zu Ivy.
    Noch nie hatte sie das getan. Das Schaukelseil war ein dickes, geflochtenes Tau, das vom höchsten Dachbalken herunterhing; ich fand es toll. Ich liebte es einfach, das Gefühl von Freiheit, den Wind, der mir übers Gesicht strich, meine geschlossenen Augen, wenn ich vom höchsten Heuballen heruntersprang und hin- und herschaukelte wie ein menschliches Pendel, bis das Seil langsamer wurde und ich mich hinunterfallen ließ auf den Heuhaufen. Ichliebe Höhen. Berge. Hochhäuser, die Art, wie sie sich direkt vom flachen Erdboden aus erheben und sich recken und strecken, als wollten sie den Himmel berühren, was immer das sein mag – der Himmel.
    »Pack das Seil«, sagte Joe, »und schwing dich durchs Fenster da nach draußen. Mal sehen, ob du dich traust.«
    Ivy schwieg.
    »Die Uhr läuft«, sagte Joe.
    Ivy stand da, ein Schemen in der Dunkelheit. Hinter dem kleinen Kreis, den wir vier bildeten, war das glaslose Fenster, ein indigofarbenes Rechteck, in dem nach und nach die Sterne aufzogen.
    »Angst?«
    Ich streckte im Dunkeln eine Hand nach meiner Schwester aus. Ich wusste, was für ein Horror Höhe für sie bedeutete.
    »Ivy, du musst das nicht tun«, sagte ich.
    Sie drehte sich im Dunkeln zu mir um.
    »Ivy«, sagte Joe, »was würdest du tun, wenn du keine Angst hättest?«
    Die Sache liegt Jahre zurück. Das war, noch bevor Joe und Ivy zusammenkamen, aber lange nach der Zeit, als meine Mutter im Bett liegen blieb, als William T. anfing, nach uns zu schauen und Rührei für uns zu machen, lange nach der Zeit, als wir noch Kinder waren.
    Ich sitze im Truck und schaue durch die Windschutzscheibe mit dem gezackten Riss, wo einmal ein Stein dagegen geflogen ist. Das Maisfeld verhält sich ganz still. Geduldig. In meinem Kopf schimmert das glaslose Fenster. Joe Miller neckt meine Schwester, sie habe Schiss. Das Wasser in mir steigt und will hinaus. Hinaus. Hinaus.
    Aussteigen. Abenddämmerung liegt über dem Tal von Sterns.Ich laufe los auf der Route 274, mein Ziel ist Remsen, Gray's Kfz-Werkstatt und Joe Miller, Joe Miller, der meine Schwester liebt.
    Bis ich dort bin, haben sie schon geschlossen, aber ich klopfe so lange ans Fenster, bis Joe, der gerade Süßigkeiten im Regal auffüllt, hochguckt, um die Theke herumkommt und mir die Tür aufschiebt. Irgendetwas wollte ich Joe Miller sagen, aber jetzt, wo ich hier bin,

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