Ich lege Rosen auf mein Grab
instinktiv spürte er, daß dieser Mensch ihm sehr gefährlich werden konnte. Sah aus wie ein Mönch, ein tiefhumaner Softie, doch unter der Kutte steckte ein Mann, der rechthaberisch war, dominant zu sein suchte, ein Eiferer der guten Sache.
«Nehmen Sie bitte Platz, Herr Mugalle…!» Daß er «Herr» gesagt und seinen Klienten nicht, wie es an sich anstaltstypisch war, von vornherein geduzt hatte, soviel Offenheit und Menschenliebe schien ihn froh und stolz zu machen.
Jossa fand diese Arroganz des gütigen Helfers zutiefst zum Kotzen, mehr noch, sie machte ihn in einem solchen Maße aggressiv, daß er die Hände um die Knie krallen mußte, um nicht auf Dr. Seeling einzuschlagen.
Diese Aggression verschob sich aber, bewirkte, daß er gegen seinen Willen losschrie, nicht Mugalle, sondern Jossa zu sein. «Verdammt noch mal! Sie als Psychologe sollten das doch als erster mitkriegen!»
Der Psychologe lächelte sanft und nachgiebig, hatte solche Situationen in seiner Ausbildung jahrelang simuliert und zu beherrschen gelernt.
«Sie haben also Angst davor, weiter Mugalle zu sein, schämen sich für Ihre Vergehen, für den Knastaufenthalt hier, sind traurig darüber, daß Sie nach Bankrott und Strafe alle Ihre Freunde eingebüßt haben… Erzählen Sie mal…» Freundlich-aufforderndes Betschwesterlächeln.
Idiot du! dachte Jossa, bemühte sich aber um dasselbe süßliche Lächeln. «Nein, eher hasse ich mich dafür, Jens-Otto Jossa zu sein. Zu stern und Spiegel wollte ich gehen und da reüssieren oder als Mann der ARD aus Moskau oder Washington Kluges nach Deutschland berichten… Und was ist daraus geworden? Nichts! Wo bin ich statt dessen gelandet? Beim Brammer Tageblatt, ein kleiner Schreiberling geworden. Jossa hasse ich, mich, nicht Mugalle! Der ist ja geradezu ein Genie gegen mich, fällt immer wieder auf die Füße, ist durch und durch bewundernswert!»
Das hatte er herausgestoßen, ohne es zu wollen. Es war die große Beichte seines Lebens, Schluß mit allem Selbstbetrug, war so erlösend wie ein krampfartiges Weinen.
Dr. Seeling machte sich Notizen, bedeckte kleine lindgrüne Karteikarten mit hingekritzelten winzigen Buchstaben, schien arabisch zu schreiben.
Gerade wollte er zu einer ersten Analyse ansetzen, da stand Zweeloo in der Tür, aufgelöst und atemlos.
«Kommen Sie, Doktor, der Taubert…! Schon wieder mal ein Suizidversuch…!»
Beide Männer stürmten davon, und Jossa hatte Zeit, sich wieder ein wenig zu sammeln, konnte anfangs auch der Versuchung widerstehen, nach Dr. Seelings Notizen zu sehen, erhob sich aber schließlich doch, ging um den Tisch herum und beugte sich hinunter, versuchte, mit den Hieroglyphen klarzukommen.
… beginnende Auflösung aller bisher sicheren Erlebnis weisen… Reagiert mit Angst und Depressionen … Anzeichen von Schizophrenie?
Jossa las es mit wachsendem Entsetzen, besonders das, was mehrmals unterstrichen war:
Autopsychische Wahnideen!!!
Was mochte das bedeuten? Im Recherchieren jahrelang geübt, ging sein Blick sofort zu Dr. Seelings gut bestückten Regalen hinauf, und er fand nach kurzer Suche zwei Bücher, die ihm Aufklärung versprachen: Die 15. Auflage von Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie und ein kleines knallrotes Bändchen, Studie zur Schizophrenie von Freeman/Cameron/McGhie.
Im Bleuler fand er auf der Seite 424 das folgende, überflog es hastig, atemlos:
«Sehr häufig sind autopsychische Wahnideen (vgl. auch S. 418 f.); der Patient ist gar nicht derjenige, für den man ihn angesehen hat, sondern ein ganz anderer; er heißt nicht so, wie die Papiere ausweisen…»
Mit schweißfeuchten Fingern zur Seite 418 geblättert:
«Der Kranke… kommt sich in seiner Krankheit selbst fremd vor: Gefühl der Depersonalisiemng … So klagt er, er müsse sein eigenes Ich suchen gehen, er sei ein anderer, nicht mehr er selbst… Die Begrenzung des Ichs gegenüber anderen Personen… kann sich verwischen… Andere sind von einem bestimmten Moment an eine neue Persönlichkeit.»
Jossa sank auf seinen Stuhl zurück, hatte begriffen, wie nahe er am Abgrund stand: Was blieb Dr. Seeling nach Lage der Dinge denn anderes übrig, als ihn zum Schizophrenen abzustempeln und darauf zu dringen, daß man ihn schnellstmöglichst in die Nervenklinik Bramme-Ost verlegte.
Die Angst, die ihm nun den Atem nahm, war durchaus real, war alles andere als ein Wahn.
Und so kam es, daß er, als Dr. Seeling nun wieder in seine Bürozelle zurückkehrte, alles unternahm, um wieder
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