Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
hochgemuten Zuversicht des Anfangs, als er die Ãrmel hochkrempelte und sich sicher war, den Jungen als ausgebildeter Pädagoge schon hinzukriegen, über die Verwunderung, die Ratlosigkeit, die Wut, den Frust, die Verzweiflung.
Manche seiner Reaktionen haben mir weh getan, wie die, da wäre nichts: »Dein Kind ist ein Klumpen Fleisch, zu dessen Sklave du dich machst, und du verkleisterst das mit Sentimentalität, weil du es nicht sehen willst.« Meine ganze Welt drehte sich im Kreis, war in den Grundfesten bedroht, ich konnte nicht einmal nachdenken über das, ob da möglicherweise etwas dran war. Ich schrie nur vor Schmerz. Es blieb eine Phase. Heute sieht Christian das anders.
Ein anderer Impuls war: »Der verarscht mich doch« oder »Der macht das mit Absicht«. Macht er das? Eher nein. Aber da Simon dazu neigt, zu lachen, wenn man ihn schimpft, das ist bei ihm einfach ein Ausdruck von Unsicherheit und Erregung bzw. des Wunsches, es möge doch alles wieder zum Lachen gut werden, kann er schon so wirken. Keine von Simons Reaktionen, weder Sprache noch Mimik oder Gestik, wird je für sein Gegenüber befriedigend sein.
Christian dachte nach und dachte nach, er rätselte, hinterfragte, stellte in Zweifel, las und versuchte zu verstehen. Er ging manchmal Irrwege, manchmal hatte er recht, in jedem Fall wühlte er meinen liebgewordenen Alltag auf. Aber, und dafür liebe ich ihn, er setzte sich damit auseinander. Er wollte das Richtige tun, und er wollte verstehen.
Manche seiner Reaktionen waren besonders aufschlussreich für mich, erleichternd sogar. Sie zeigten mir, die ich selbst schon keinen rechten Zugang mehr zu meinen Gefühlen habe, welche enormen Emotionen Simon zu wecken imstande ist. Und dass man auch das Recht auf diese Emotionen hat, ein Recht auf die Wut, auf die Verwirrung und auf die Enttäuschung. Dass sie ganz natürlich waren. Teilweise hätte ich am liebsten seitenweise mitschreiben mögen für dieses Buch: was Christian zu einer Situation sagte, wie er empfand, denn er konnte sich viel frischer und klarer ausdrücken als ich. Zum Beispiel seine Traurigkeit darüber, dass man mit Simon praktisch nichts gemeinsam tun kann.
Christian ist Hobby-Modellbauer, und er hätte sich gefreut über ein Kind, dem er seine Flugzeuge hätte zeigen und etwas beibringen, mit dem er gemeinsam hätte basteln können. Aber abgesehen von Simons dafür völlig ungeeigneter Feinmotorik ist so eine gemeinsame, andauernde Tätigkeit mit ihm fast völlig unmöglich. Sie können Simon schon zwingen, bei einem Brettspiel eine Figur zu schieben oder Ihnen beim Handwerken ein Brett zu halten. Oder eben Hausaufgaben zu machen, täglich tue ich das ja. Er und Sie befinden sich dabei aber meist nicht in derselben Welt, zumindest nicht sichtbar. Seine Augen sind abgewandt, er ist unruhig, und dauernd strebt er fort. Nie scheint er dort sein zu wollen, wo er ist. Fragen Sie: »Ist das schön?«, ruft er: »Ich will jetzt gehen« oder sagt »ja« auf eine dressierte Weise, die klarmacht, er will jetzt nur einfach aus der Situation rauskommen. Nichts ist möglich ohne enormen Kraftaufwand von Ihrer Seite.
Währenddessen reden Sie ununterbrochen, weisen ihn an, weisen ihn hin, schlagen ihm vor, was er wie zu sehen hat, überwinden ganz nebenbei seinen Widerstand und suchen es mit Humor zu nehmen. »Ist das nicht toll?«, fragen Sie, rufen: »Schau mal«, loben: »Da haben wir aber was geleistet.« Ignorieren sein Wegstreben, manchmal seine Wut, schlucken den eigenen Frust hinunter. Mit Worten erzeugen Sie eine Situation und eine Gemeinsamkeit und suchen zu vergessen, dass es ein Monolog ist. Ich bin schon dankbar geworden, wenn Simon sich dem nicht entzieht. Und hoffe, dass er etwas davon hat.
Dieses beglückende Gefühl, in jemandes Augen zu sehen und zu spüren, wir denken gleich, wir schwingen gleich, wir genieÃen das jetzt gemeinsam, das bleibt Ihnen mit einem Autisten im Alltag meistens versagt. Wie viele Ideen habe ich nicht schon entwickelt und wie viel Frust hinuntergeschluckt, weil Simon nicht annähernd meine Begeisterung dafür entwickelte. Wie oft war alles schon nach wenigen Minuten vorbei.
Manchmal sieht man, dass Simon sich über etwas Erreichtes freut, über eine gelöste Aufgabe, über ein Lied im Radio, aber er freut sich alleine, man ist nur Zuschauer, muss sich begnügen. Wie
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