Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
selten die Momente, da er dabei auf mich zugeht und mich anfasst, um mir ins Gesicht zu lachen, um seine Freude zu teilen, worüber auch immer. Zweimal bisher in meinem Leben hat er mir bei so einer Gelegenheit einen Kuss aufgedrückt! Kostbarkeiten! Ich vergesse nie, dass es sie trotz allem gibt. Mir scheint sogar, dass sie häufiger werden. Aber sie eröffnen sich nur dem lang vertrauten Menschen. Sie dauern nicht lange. Die Durststrecken dazwischen sind groÃ.
Ich bin daran gewöhnt, durch Simon und vielleicht auch, weil meine Ehe schon eine ganze Weile ähnlich funktioniert hatte: als von mir organisiertes Projekt mit schweigendem Teilnehmer. Christian dagegen nimmt es noch immer schmerzlich wahr.
Dadurch habe ich wieder gelernt, wie wichtig das ist: gemeinsam zu leben, so viele Gefühle, Gesten, Momente zu spüren, die sagen: Ich bin da, bin bei dir, oder einfach: Du und ich. Ohne dieses Du kann man nicht wirklich überleben.
Christian engagiert sich für Simons Erziehung. Weil das eine Perspektive ist, letztlich für uns alle. Je besser er sich verhält, desto besser kommen wir alle miteinander klar. Sie ist notwendig. Durch ihn habe ich einen neuen Motivationsschub bekommen und eine Utopie vor Augen. Aber einfach ist es nicht.
Innerhalb der Autismusforschung gibt es, grob gesagt, zwei Erziehungsschulen. Die amerikanische setzt auf strikten Drill, ein 25-h-Wochenprogramm, das mit Konsequenz, klar geregelter Belohnungsstruktur und Wiederholung am Erwerb von sozialen Grundfähigkeiten arbeitet, wie dem Handgeben, GrüÃen, Augenkontakt etc. Es gibt Mütter, die von enormen Erfolgen berichten, die sie bestärkt hätten, konsequent zu bleiben, obwohl sie anfangs Scheu hatten, ihre Kinder so hart und streng anzusprechen.
Man kann das Programm erwerben, sich schulen lassen und es zu Hause durchziehen. Im Stern war mal ein Artikel über eine Familie, die sich dafür extra einen Arbeitsraum im Keller eingerichtet und einen Kredit aufgenommen hatte. Die Mutter übernahm die Schulung. Wenn man es sich leisten kann â es kostet so viel wie ein Auto der gehobenen Mittelklasse â und die Zeit dafür hat, muss man es sich auch noch zutrauen, das durchzuziehen.
Die europäische Schule setzt mehr darauf, den Kindern in ihre eigene Welt zu folgen, sie, so weit es geht, zu lassen und einsichtiges Verhalten statt Dressur zu produzieren. Zugang finden, dort abholen, wo sie sind. Musik, Zeichnen, Bewegung. Das klingt schön, auf dieser Basis funktionierten auch die meisten von Simons Therapien, ich bin mir aber ehrlich gesagt nicht sicher, ob »Einsicht« eine auf Autisten anwendbare GröÃe ist. Intellektuelle Einsicht, ab einem gewissen Alter, ja. Möglicherweise ist Einsicht ja gar nicht das Problem, ist sie im Prinzip vorhanden. Nur ist der Weg zur Umsetzung ins Verhalten weit und schwer und mit vielen, unglaublich vielen Wiederholungen und strikter Konsequenz gepflastert.
Christian ist eher ein Anhänger der amerikanischen Richtung. Weil er immer wieder sieht, dass es funktioniert, wenn er Simon strikte, kurze Anweisungen gibt. Simon folgt ihm besser als mir, das muss ich zugeben. Ich selbst würde gerne einen Mittelweg beschreiten, ohne zu wissen, ob es den gibt. Die Strenge mit Freundlichkeit kombinieren. Klarheit statt Kasernenhof.
Simon hat ein wenig Angst vor Christian, und das zu sehen tut mir weh. Auf der anderen Seite führt diese Angst dazu, dass Simon mich morgens in Ruhe lässt, wenn ich im elterlichen Schlafzimmer neben Christian liege und damit von ihm beschützt bin. Ich, als Profiteur dieser Angst, kann ein wenig länger schlafen und will das auch. Mit schlechtem Gewissen drücke ich mich in die Kissen.
Wir haben eine groÃe 7 an die Tür gemalt. Sieben Uhr â vorher darf Simon nicht rein, er soll sich selbst in seinem Zimmer beschäftigen, schaukelstuhlschaukeln, singen. Im Grunde könnte er lesen. (Noch immer weià ich nicht, warum er nicht eigenständig zu einem Buch greift.) Auch beherrscht er es manchmal, seine Playstation selbst einzuschalten. Manchmal aber eben nicht. Dann vergisst er, neben dem Spielgerät auch den Fernseher anzustellen. Oder die blöde CD hängt und es geht nicht weiter, dann starrt er eine Stunde hilflos das Fehlerbild an. HerzzerreiÃend. Aber etwas dagegen unternehmen morgens um sechs? Um fünf? Um vier?
Was ist konsequent? Was ist herzlos? Was kann Simon aushalten,
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