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Ich liebe mich

Ich liebe mich

Titel: Ich liebe mich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Hassencamp
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er spritzt, zählt die Scheine und geht. Das starre Bündel entkrampft sich, ein Lächeln kommt auf. Er schläft ein.
    Draußen wird es hell.

    Wenn ein gewisser Grad des Leidens überschritten ist, wirkt das sonst erschreckende Instrumentarium einer Zahnarztpraxis, der Glasschrank mit den Zangen, die Bohrersortimente unterm Plexiglassturz, der Galgen mit dem seilgetriebenen Bohrwerk, die Schläuche mit Gebläseluft und Wasserstrahl, der auf freiliegenden Nerven besonders unangenehm empfunden wird, Speichelabsauger und Turbobohrer — schneller als der Schmerz! — eher beruhigend. Nur hier kann noch geholfen werden. Ohne Ausweichmöglichkeit und doch zuversichtlich lehnt der Patient im hochgepumpten Operationsstuhl, die Gesäßmuskeln schmerzerwartend gespannt, und hofft auf Rücktransport in die nur noch schemenhaft wahrgenommene Welt.
    Bei Konversation, die keine Antwort erforderlich macht, lüftet der Zahnarzt die geschwollene Backe, sticht in den Kiefer, von außen und knirschend in den Gaumen, drückt die Spritzen leer, die seine Assistentin ihm reicht. Alles ist hell, sauber, linderungsbereit. Die Operationslampe blendet den Patienten nicht, wenn er gelegentlich die Augen aufschlägt. Vertrauensvoll schaut er dem Arzt in die Nase, sieht die Härchen in den dunklen Gängen stramm wie Zinnsoldaten zur Staubabwehr bereit, entdeckt auf der Wange einen entzündeten Mitesser, ein gespaltenes Barthaar am Kehlkopf, das die letzte Rasur überlebt hat, riecht die desinfizierende Seife auf den Händen unter seiner Nase und genießt, uneingestanden aber kleinlich, was ihm als Patienten zu genießen bleibt: den Aufwand um seine Person.
    Die Spritzen wirken, der Gaumen wird fremd, die Lippen stumpf und pelzig, vor allem dort, wo vor den Nadeleinstichen das Sprühfläschchen mit der nach Gurgelwasser duftenden Betäubungslösung sie netzte. Instrumentengeklapper auf dem schwenkbaren Werkzeugtisch: Der Arzt greift nach einem Gegenstand mit stumpfer Spitze, die er hinter aufgestelltem Daumen verbirgt, führt sie zum Munde des Patienten, umrundet den Auserwählten, das Zahnfleisch für den Zugriff mit der Zange zu lösen; die Assistentin steht bereit, tauscht unbemerkt Instrumente; der Kopf des Patienten ruht im Arm des Arztes fest an der weißen Brust. Ein Druck des Bizeps gegen die Schläfe täuscht über den Zugriff hinweg. Schon leiert die Hand, als betätige sie einen Schaltknüppel, vom Rückwärtsgang in den vierten, vom zweiten in den dritten; es folgt ein Kreisen unter Zug, mit Liebe zum Beruf ausgeführt, und gleichsam leichtfüßig verläßt der lästige Bursche für immer seine Behausung.
    Jetzt hat die Assistentin ihr großes Solo, führt Weißes ein, holt Rotes raus, unermüdlich und mit langer Pinzette, während der Meister die Zange mit dem Klumpen bei geschlossenen Augen unter den geblähten Nüstern im Kreis bewegt, schwelgerisch wie der Weinprüfer das Glas, um das faulige Bukett zu erschnuppern. Dann nickt er, wissenschaftlich und zufrieden zugleich.
    »Das war ein Bursche! Den müssen Sie aber gemerkt haben! Müdigkeit, schlechter Mundgeruch...«
    Ergeben nickt der Patient, wagt noch nicht, mit der Zunge in die riesige, warme Höhle zu tasten, sucht Halt im Auge des Arztes, dessen Blick voll auf ihm ruht, klar, beruhigend, akademisch beglaubigt. Die Täuschung gelingt. Der Patient schließt die Augen, öffnet dem Spiegel den Mund, dumpf, anheimgegeben, demütig hoffend, denkt einen Augenblick daran, wie seine Viertelbögen auf Babsis Schulter jetzt aussehen würden, wodurch ihm der Instrumentenaus tausch unter seinem Kinn entgeht. Wieder haben Bizeps und Brustbein den Kopf in schalldichte Presse genommen, die Ratio abgeklemmt. Benommen fühlt er massive Hebelgriffe, der Dritte ist’s, des Spätanthropoiden degenerierter Reißzahn und entsprechend verankert. Immer zügiger das Leiern, immer knapper das Weinprüferritual. Jetzt geht es nicht mehr um Bukett oder Eleganz, um Vollmundigkeit schon gar nicht: diese Spätlese stammt aus ein und demselben fauligen Faß — Spund auf und raus damit.
    Der belastete Organismus läßt nur mehr zwei Wahrnehmungen zu: Die von fern hallende Trostlüge >Nur den einen noch!< und die Geborgenheit zwischen Bizeps und Brustbein. So menschenfreundlich konstruiert ist der Mensch.
    »Nur den einen noch!« hallte es in ihm nach, als er in seinem Bett lag, mit erträglichen Schmerzen, befreit vom hämmernden Puls, von der Angst um sich. Schwach, aber befriedigt nahm er das

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