Ich liebe mich
Alleinsein wahr, die Hilfe des auf Klingel und Wink reagierenden Mädchens, das Fernbleiben der Familie.
Am Nachmittag, als es draußen dämmerte und ihm klar wurde, daß er seine Zunge bei zusammengeklappten Kiefern herausstrecken könnte, wenn er es wagte, sie an dem wunden Viertelbogen hinter der Oberlippe vorbei zu schieben, trat der Arzt ins Zimmer, ein stolzer Galeriedirektor über zweiunddreißig Originale und zahllose Kopien. Er setzte sich aufs Bett, tastete mit kalten Händen. In seiner Stimme lag Triumph.
»Sehr gut! Ausgezeichnet! Morgen können Sie schon Brei essen!«
Er fühlte den Puls, schrieb ein Rezept für ein Schlafmittel aus, das bei Bedarf zu nehmen sei, stellte das Telefon weg, damit, wie er sagte, der Patient gar nicht erst in Versuchung käme. Sprechen wäre zu Zeit nicht seine starke Seite.
Der Patient bewundert sich nachträglich, versucht Worte zu bilden, der Atemstrom kitzelt den wunden Kiefer, die Stimmbänder liefern Ton, aber die Artikulierung mißlingt. Da tröstet der Arzt in seiner fröhlichen Art.
»Geben Sie sich keine Mühe! Wenn Sie was wollen, schreiben Sie’s auf. Genießen Sie das Schweigen! Lesen Sie! Wenn Sie wüßten, wie ich Sie um die Ruhe beneide!«
Der Leidende beneidet den Gesunden. Er schleppt sich ins Bad, trifft im Spiegel einen Fremden mit schlaffen Schultern und Mundbewegungen, die ihn erschrecken, läßt ihn stehen, vergräbt sich in seine Kissen, steht wieder auf, holt Bleistift und Papier, holt sich das Telefon, seine Hand wählt ihre Nummer. Eine männliche Stimme meldet sich. Er schweigt und wartet, bis am anderen Ende aufgelegt wird.
Niemand darf mich so sehen — Altern ist entwürdigend — ein Gebiß soll einen völlig verändern — ach ja Als seine Frau nach ihm sieht, liegt er auf der Seite und schläft fest. Erst im Morgengrauen dreht er sich auf den Rücken, spürt im Kiefer ein Prickeln, als der Druck aufhört. Schläfrig streckt sich die Zunge, stößt auf Ungewohntes, zuckt zurück und weckt damit ihren Besitzer. Nach Rasur und Strohhalmfrühstück Blick in den Spiegel: matt die Augen, der Mund schief geschwollen. Die Schmerzen sind abgeklungen, dafür wächst die Unruhe. Der Schriftverkehr im Hause wird zunehmend als Wohltat empfunden. Als er in Hut und Mantel, die untere Gesichtshälfte in einen Schal gehüllt, am Fuß der Treppe auf seine Frau trifft, reicht er ihr den vorbereiteten Zettel:
>Muß an Luft. Arzt sagt brauche Bewegung, Kreislauf. Hilde soll um drei Uhr kommen. Dicke Tomatensuppe. Bitte!<
Mütterlich lächelt sie ihn an, schüttelt den Kopf: Er soll im Bett bleiben, wenigstens heute noch, Zugluftgefahr und so weiter. Prompt zieht er den zweiten Zettel aus der Tasche: >Fahre in Wald, wo es nicht zieht!<
Er fährt in die Stadt, fühlt sich alt hinter den geschlossenen Scheiben, isoliert, wie einer, der nach Jahrzehnten zurückkehrt.
Hier in der Maximilianstraße war er oft mit Stephanie zum Einkäufen gewesen, auch mit seiner Frau; dort am Platz das Restaurant der Aufsichtsräte, wo sie einander vor den paneelierten Wänden Herrenwitze der milden Sorte erzählt hatten, rechts und links vom Teller die gestärkten immer weißen Manschetten; da auf dem Markt war er mit Elvira zum Einkäufen gewesen, Käse vor allem; in dem Bräu dort hatte er öfter gegessen, alleine; da war das Restaurant, wo er mit Babette und dem jungen Mann gewesen war — eigentlich ein netter Abend; hier die Schule, ohne Babettes Wagen auf dem Parkplatz.
Aus einem Blumengeschäft ruft er bei ihr an. Wie erwartet, meldet sich niemand. Diesmal ist es ihm recht. Schriftlich kauft er zwanzig Rosen. Die würden sie freuen. Unaufdringliches Lebenszeichen, mit Dank für ihre Hilfe und der Bitte, doch mal anzurufen, irgendwann, er könne leider zur Zeit nur >Hm< sagen, vielleicht hätte sie einen Wunsch, sie solle mal nachdenken...
Als er ihre Wohnung aufschließen will, läßt sich der Schlüssel nicht drehen. Er muß sich geirrt haben. Der Schal um die untere Gesichtshälfte behindert die Sicht. Noch einmal. Wieder nicht. Noch einmal. Bis es keinen Zweifel mehr gibt: das blanke Messing um den Schlüsselschlitz, das weniger blanke der Schlüssellochblende — Babette hat das Schloß auswechseln lassen.
Ohne ein Begleitwort steckt er die Rosen in den Briefschlitz — sie soll wissen, daß er’s weiß —, fährt durch Straßen, die er nicht kennt, neue Viertel aus Bauklötzen in verwaschenen Farben, verwohnte Mietwaben, mit Luftlöchern für
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