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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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jeden Tag um sechs Uhr morgens zur Milchausgabestelle, um für mich eine zusätzliche Portion zu ergattern. Einmal, als unsere Nachbarin ihre Wohnungsschlüssel verloren hatte, kletterte mein Vater im Winter die Regenrinne hoch auf ihren Balkon im vierten Stock, um die Tür von innen zu öffnen. Es war lebensgefährlich und gar nicht notwendig, trotzdem tat mein romantischer Vater es gerne. Er war immer da, wenn jemand nach Hilfe rief, und wurde nie sauer, wenn man ihn ausnutzte. Wie kam es also, dass er sich dann doch zu einem solchen Zyniker entwickelte? Das staatliche Fernsehen muss schuld daran gewesen sein. Oder vielleicht kam es einfach mit der Zeit – von ganz alleine.

Menschenrechte
    Viele meiner Verwandten haben in der Vergangenheit den totalitären Griff des sowjetischen Regimes kennen gelernt. Mein Großvater mütterlicherseits, der ein Armeeoffizier war, wurde kurz vor dem Krieg wegen des Verdachts verhaftet, an einer Offiziersverschwörung teilgenommen zu haben. Er verbrachte einige Monate in Untersuchungshaft. Meine Mutter, damals elf Jahre alt, ging jeden Tag zum Gefängnis, in der Hoffnung, ihren Vater zu sehen. Es gab wenig Aussicht auf seine Freilassung – eine solch großzügige Geste war beim Staat eine Seltenheit. Mein Großvater hatte aber großes Glück. Der damalige Chef des NKWD, Jeschow, wurde plötzlich selbst verhaftet: Man beschuldigte ihn des Staatsverrats. Im Gegenzug wurden alle seine Verhaftungsbefehle aufgehoben. Das hat meinem Großvater die Möglichkeit verschafft, nicht als Häftling in einem Lager, sondern zwei Jahre später als Offizier in der Schlacht bei Kursk zu sterben.
    Mein Großvater väterlicherseits, ein Buchhalter, war schlauer: Er wechselte alle drei bis vier Jahre seinen Namen und seinen Wohnort. Auf die Weise kam er ungeschoren durch den Krieg und landete erst 1952 – wegen des Verdachts, an einer staatsfeindlichen Buchhalterverschwörung beteiligt zu sein – im Knast. Meine Tante, seine Tochter, erinnert sich noch immer zitternd an die nächtlichen Hausdurchsuchungen damals. Alles Geld, das komplette Geschirr und sämtliche Bettwäsche, sogar das Sparschwein meiner Tante, die damals ein siebenjähriges Mädchen war, wurden der Familie als Beweisstücke abgenommen. Sechs Monate später starb Stalin, und viele Inhaftierte kamen auf freien Fuß. Auch mein Großvater durfte nach Hause. Das Sparschwein kam jedoch nicht mehr zurück. Wahrscheinlich wurde mit ihm der weitere Aufbau des Sozialismus finanziert.
    Seit zehn Jahren lebt nun meine Tante in einer demokratischen Gesellschaft in Berlin-Kreuzberg und meine Mutter in fast ebenso demokratischen Verhältnissen im Prenzlauer Berg. Neulich erfuhren sie, dass ich an einer Benefiz-Veranstaltung im Gorki-Theater teilnehmen sollte, die von Amnesty International organisiert wurde. Ich sollte dort ein paar traurige Geschichten über Russland vorlesen, weil diese Organisation sich in Zukunft verstärkt um Menschenrechts-Verletzungen in Russland kümmern wollte und Geld dafür brauchte. Viele russische Künstler sagten ihre Teilnahme an dieser Veranstaltung zu.
    »Das hört sich interessant an«, meinte meine Tante am Telefon, »das wird bestimmt eine lustige Geschichte, kannst du uns auf die Gästeliste setzen?«
    »Natürlich«, sagte ich. »Aber mit dem Eintrittsgeld wird doch die Erhaltung der Menschenrechte in Russland, also in deiner Heimat, finanziert. Willst du dafür nichts spenden?«
    Meine Tante lachte und meinte, ich solle sie nicht für dumm halten. Jeder sei für seine Menschenrechte selbst verantwortlich.
    »Und auch meine Rechte werden jeden Tag mit Füßen getreten!«, fügte sie hinzu. »Das Recht auf Ruhe, oder das Recht auf Kleidung. Ich kann mir seit Jahren keine normale Bluse mehr kaufen, nicht bei Karstadt und nicht bei Woolworth, weil sie nur Müll produzieren.«
    »Mensch, Tante!«, rief ich verblüfft ins Telefon. »Du lebst seit zehn Jahren in der Kreuzberger Demokratie und hast jeglichen Sinn für Realität verloren. Es geht hier nicht um solchen Kleinkram, sondern um die richtigen Menschenrechte, die aus dem Grundgesetz! Weißt du, was ich meine?«
    Meine Tante dachte kurz nach und schnaubte. »Natürlich weiß ich es, klar – die richtigen, die stehen auch in der Bibel: nicht klauen, nicht töten …«
    »Das sind Menschenpflichten«, klärte ich sie auf.
    »Ach so, ich glaube, ich weiß jetzt, was du meinst.« Die Stimme meiner Tante wurde leise und ernst.
    »Hmm, Freiheit?«
    »Ja,

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