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Ich mach mir Sorgen, Mama

Titel: Ich mach mir Sorgen, Mama Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wladimir Kaminer
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Arbeiterbezirk sehr schlecht war. Auf dem Bildschirm schneite es ununterbrochen, und das Bild rutschte ständig nach unten oder nach oben weg. Mein Vater sah aber immer alles, was er sehen wollte. Wenn der Nachrichtensprecher ein Mann war, dann sagte mein Vater: »Der bumst bestimmt die Frau des Fernsehdirektors. Sonst wäre er niemals zu diesem tollen Job gekommen. Guck dir nur seine Fresse an!«
    Ich ignorierte seine Bemerkungen und mochte ihn nicht wegen seiner Anzüglichkeiten verurteilen. Denn Schuld daran war selbstverständlich seine Umwelt, seine Freunde und nicht zuletzt seine Vergangenheit. Ich war mir sicher, dass mein Vater als Romantiker zur Welt gekommen war. Auch er sehnte sich als junger Mann nach einer großen Liebe und nach Heldentaten. Doch seine Träume wurden von seiner Umgebung zerstört, und irgendwann wurde aus einem blauäugigen Romantiker ein frustrierter Zyniker. Ich hörte mir die Geschichten über seine Jugendjahre in Odessa an und versuchte mir immer wieder vorzustellen, wann dieser Umschwung in seinem Leben stattgefunden hatte. Vielleicht nach seiner ersten großen Liebe?
    Am Rande seiner Heimatstadt Odessa hatten sich einmal Zigeuner angesiedelt. Mein Vater war damals gerade achtzehn Jahre alt und ging täglich zur technischen Schule, die sich in der Nähe des Zigeunerlagers befand. Eines Tages lernte er auf dem Heimweg eine hübsche junge Zigeunerin kennen, die ihm seine Zukunft aus der Hand las. Die Vorbestimmung meines Vaters war: mit der jungen Zigeunerin sofort in Richtung Kiew abzuhauen und dort gemeinsam ein glückliches und erfülltes Leben zu führen. Dieses Schicksal begeisterte ihn sofort. Ohne eine Minute nachzudenken, rannte er nach Hause, holte aus der alten Matratze die gesamten Ersparnisse seiner Eltern und brannte mit der Wahrsagerin durch.
    Die beiden kamen jedoch nicht bis Kiew. Sie landeten stattdessen auf Umwegen in dem gleichnamigen Restaurant in Odessa, wo sie einige schöne Stunden zusammen verbrachten. Am späten Abend wurden sie dort von den zornigen Verwandten der Zigeunerin entdeckt: Der Vater des Mädchens und ihre zwei Brüder sowie deren zahlreiche Freunde behaupteten, mein Vater habe das Mädchen gekidnappt. Mein Vater bestritt alles und war sofort bereit, das Mädchen zu heiraten. Es stellte sich aber heraus, dass die junge Zigeunerin bereits vergeben war – ihr Bräutigam war einer der Freunde.
    Für diesen kurzen romantischen Ausflug bezahlte mein Vater mit einer Gehirnerschütterung, zwei gebrochenen Rippen und merkwürdigerweise mit einem Leistenbruch. Außerdem waren die Ersparnisse seiner Eltern futsch. Dieser Vorfall hinderte ihn jedoch nicht daran, sich noch mehrmals mit der hübschen Zigeunerin zu treffen, bis das Zigeunerlager irgendwann weiterzog. Trotz dieser niederschmetternden Erfahrung blieb mein Vater damals ein Romantiker.
    Drei Jahre später bei der Armee verliebte er sich in die Tochter eines Offiziers. Sie war das einzige junge Mädchen in dem ganzen Militärstädtchen, und alle Soldaten waren mehr oder weniger in sie verliebt.
    Mein Vater schickte ihr selbst verfasste Liebesgedichte und verbrachte lange Nächte unter dem Balkon der Offiziersfamilie. Zuletzt eroberte er dadurch das Herz des Mädchens tatsächlich. Sie trafen sich einige Male im Garten hinter dem Offiziershaus. Bis sie eines Nachts von dem Vater des Mädchens entdeckt wurden. Als Ergebnis dieses romantischen Abenteuers bekam mein Vater einen Tripper, musste zwei Wochen im Knast verbringen und bis zum Ende seiner Dienstzeit die Offizierstoiletten putzen. Er blieb jedoch auch weiterhin noch ein Romantiker.
    Als ihn zehn Jahre später in Moskau eine schon leicht angetrunkene Frau in einer Kneipe ansprach und bat, sie vor ihrem wütenden Liebhaber zu schützen, überlegte er keine Sekunde, stand auf und ging an einen Tisch, an dem fünf Armenier saßen. Mit dem Satz: »Was habt ihr mit der Frau angestellt, ihr fetten Schwuchteln!«, machte er die Runde auf sich aufmerksam. Während die Männer über meinen Vater herfielen, trank die Frau sein Bier aus und klaute ihm auch noch seine fast neue Aktentasche. Mein Vater musste anschließend zum Arzt, um sich ein paar neue Zähne machen zu lassen, hatte aber seine romantische Lebenseinstellung anscheinend noch immer nicht eingebüßt.
    Wenig später lernte er meine Mutter kennen. Ständig lud er sie ins Theater ein, und jeden Tag schenkte er ihr frische Blumen. Sie heirateten. Als ich kurze Zeit darauf geboren wurde, rannte er

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