Ich mag dich immer noch, wie du bist - Liebe ist nicht die Antwort, sondern die Frage: Ich mag dich immer noch, wie du bist
verständigt haben, dass wir zwei keine Verbrecher sind, sondern ganz normale Menschen, die einander in dieser beschissenen Lage Gesellschaft leisten. Ich komme mir ein bisschen vor wie bei Big Brother , wenn die Konkurrenten nach Verbündeten suchen. Ehrlich gesagt hatte ich nicht viel Auswahl, außer uns ist nur noch ein Junge da, der ständig singt und der mir anfangs sympathisch war, bis er sich den Finger mit Speichel befeuchtet und ein Hakenkreuz an die Wand gemalt hat.
»Ein Freund von mir, schwul wie ich, den ich in Padua kennengelernt habe, wurde eines Abends auf dem Heimweg von ein paar Typen mit rasiertem Schädel angehalten. Die haben angefangen, sich über ihn lustig zu machen. Dieser Freund von mir wirkt schon ziemlich feminin, so wie er sich bewegt und spricht. Sie haben ihn weiter hochgenommen und dann haben sie ihn zusammengeschlagen. Anderen Freunden von mir ist es genauso ergangen und es passiert immer öfter in Italien, überall, in Rom, in Bologna … Du hast es sicher in den Nachrichten gesehen, ab und zu greifen sie ja einen besonders brutalen Fall auf …«
»Klar, so was habe ich gesehen.«
»Na, mehr gibt es nicht zu erzählen. Ich war es satt, in einem Land mit einer scheinheiligen Doppelmoral zu leben, das Gewalt auch noch Vorschub leistet, während es so tut, als würde es für die Gerechtigkeit kämpfen. Ich hatte keine Lust mehr, auf Schritt und Tritt auf der Hut sein zu müssen, wenn ich unterwegs war. Und so bin ich nach San Francisco gekommen.«
»Und warum gerade San Francisco?«
Paolo zieht spöttisch die Mundwinkel nach oben, und ich kann mir vorstellen, dass er unter anderen Umständen laut losgelacht hätte.
»Warum ich nach San Francisco gekommen bin?«, fragt er mich, als wolle er sichergehen, dass ich keinen Witz gemacht habe. Ich nicke.
»San Francisco ist die Hauptstadt der Schwulen«, sagt er in einem Ton, als würde er die größte Selbstverständlichkeit der Welt erklären. »Das war zumindest so, denn jetzt ändern sich die Dinge auch hier ein wenig. Aber du hast doch bestimmt diesen Film Milk gesehen. Wenn du den kennst, hast du die Antwort auf deine Frage.«
»Also, den habe ich eigentlich noch nicht gesehen«, gebe ich zu und bestätige ihm so meine Unkenntnis über das Thema »San Francisco und Homosexualität«.
»Er zeigt die Geschichte der Schwulenbewegung und den Kampf für ihre Rechte, der hier früher als anderswo begonnen hat … Na gut, sieh ihn dir an, wenn du hier rauskommst. Und was ist mit dir? Was machst du hier?«
Stimmt, denke ich, das würde ich auch gern wissen.
»Ich wollte in Berkeley studieren, aber dann …«, sage ich und verstumme sofort, während ich versuche, meine Vergangenheit so weit auf die Reihe zu bekommen, dass sich erklären ließe, was eigentlich geschehen ist. »Dann ist eine Menge passiert«, kürze ich das Ganze ab. »Ich habe in einem Tabledance-Lokal Arbeit gefunden, habe ein Mädchen kennengelernt, das in einer Rockband spielt, habe ihr das Leben gerettet, meine Freundin hat mich verlassen und dann … dann bin ich hier gelandet.«
»Verdammt, nicht schlecht. Also bist du auch abgehauen?«
»Na ja, nicht wirklich … Ich wollte einfach hierher, aber nicht unbedingt, weil mich Italien ankotzt, na ja, vielleicht doch ein bisschen. Obwohl ich im Augenblick nicht behaupten kann, dass es hier viel besser ist.«
Als ich das sage, bewegt Paolo den Kopf auf und ab und lächelt dabei wissend.
»Glaub mir, es ist besser hier«, sagt er leise, als würde er mir ein Geheimnis anvertrauen.
»Nein, ich glaube nicht, dass es in Amerika viel besser ist als in Italien«, beharre ich.
Paolo lächelt wieder und sieht mich an. »Hier sind wir nicht in Amerika. Hier sind wir in San Francisco. Das ist ein ganz besonderer Ort. Hier kann man vieles tun, was in anderen Bundesstaaten verboten ist.«
Dabei saugt Paolo heftig die Luft durch die zusammengelegten Hände ein wie jemand, der einen Joint raucht.
»Das hatte ich eigentlich auch gedacht, aber dann …«
»Aber was?«
»Genau deswegen bin ich hier«, sage ich und spreche leiser.
»Okay, wie viel hattest du denn dabei?«
»Nur ein paar Krümel. Und die gehörten nicht mal mir. Aber … Na gut, das ist eine zu lange Geschichte.«
Wir schweigen ein paar Sekunden.
»Und du, was hast du getan?«, frage ich ihn in der Annahme, dass das Tabu, nicht über das Warum-wir-hier-sind zu reden, jetzt nicht mehr gilt.
Paolo antwortet jedoch nicht. Er presst die Lippen zusammen
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