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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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die
Peies
einem chassidischen Rabbi. Und schon ist sie, wie ein Blitz in Schwarz und Lila und ohne tschüs zu sagen, aus der Tür.
    Lucy ist schon mehrmals Marathon gelaufen – nur deshalb hat mein ebenso ehrgeiziger Ehemann vermutlich überhaupt damit angefangen. Barry gefällt das Laufen gar nicht besonders, noch weniger gefällt ihm allerdings, dass meine Schwester ihn womöglich übertrumpfen könnte, und Lucy läuft für ihr Leben gern – bei jedem Wetter, zu jeder Tageszeit, mit langen, geschmeidigen Schritten. Ein zufälliger Passant könnte auf die Entfernung an ihren Sportsachen sicher nicht erkennen, ob sie Mann oder Frau ist, müsste aber unweigerlich ihre pantherartige Anmut bewundern.
    Nur leider bleibt davon nichts übrig, sobald sie mit dem Laufen aufhört. Nicht mal so sehr, weil sie dann einen burschikosen Trampelgang hat, sondern weil Lucy der einzige Mensch ist, den ich kenne, für den Sport ein Vorspiel zur Aggression ist. Die meisten Leute würden sich nach einem Training am liebsten hinlegen, doch Lucy scheint dann erst so richtig zu Streit aufgelegt. Und je weiter sie läuft, desto kratzbürstiger wird sie.
    Zumindest Selbstmord können wir ausschließen,
denkt sie.
Es ist unmöglich, dass meine Schwester sich hätte umbringen wollen oder können.
Sie findet in ihren Laufrhythmus und synchronisiert jeden Schritt mit einem Gedanken. »Hat Annie-Belle viel zu sehr geliebt.« Lucy spricht den Kosenamen meiner Tochter in genau demselben viel zu zärtlichen Tonfall aus wie ich. »Noch jede Menge Leben vor sich.« Sie läuft einen Hügel hinauf. »Aber Barry hätte sie so weit kriegen können.« Sie läuft schneller. »Mich treibt der Typ in den Wahnsinn – der könnte jede Frau dazu bringen, mit dem Fahrrad ins Wasser zu fahren.« Sie dreht sich um. »Oder eine Klippe hinunter.« Sie erreicht die Hügelkuppe. »So sind alle Ehen.« Sie zieht das Tempo an. »Männer   … Trottel.« Und läuft noch ein wenig schneller. »…   Arschlöcher.« Trapp, trapp. »Idioten. Scheißkerle.«
    Pfeifend fährt der Wind durch kahle Bäume, während Lucy sechs Meilen läuft und ihre Gedanken um die verschiedensten Möglichkeiten kreisen. Sie kommt an dem Diner vorbei, in dem unsere Eltern uns jede Woche nach der Sonntagsschule Blaubeerpfannkuchen spendiert haben. Zwei Freundinnen von früher aus der Highschool winken – sie setzen die Tradition mit ihren eigenen Kindern fort. Lucy ignoriert sie.
    »Wir haben einen Früchtekorb für 100   Dollar geschickt«, sagt die eine der jungen Mütter. »Sie hätte wenigstens stehen bleiben können, um guten Tag zu sagen.«
    »Du kannst uns mal, Lucy-Dussel«, zischt die andere leise. »Wenn ihre Schwester nicht gerade gestorben wäre, würde ich es ihr laut hinterherschreien«, sagt sie zu ihrer Freundin.
    Lucy ist so sehr in Gedanken versunken, dass sie sie gar nicht gehört hätte. »Tabletten, vielleicht.« Jetzt, auf der letzten Meile, gerät sie ins Keuchen. »Oder Kohlenmonoxid.« Auf der Zielgeraden verschnauft sie etwas. »Aber nicht so.«
    Zu Hause stürmt Lucy in die Küche.
    »Wo warst du?«, fragt meine Mutter. »Du bist so lange weggewesen.«
    Meine Schwester antwortet nicht. Sie schnürt ihre Schuhe auf und legt Schicht um Schicht ihre verschwitzten Sachen ab.
    »Du errätst nie, wer angerufen hat«, sagt mein Vater.
    Molly?
, denkt Lucy.
    »Barrys Mutter«, erzählt meine Mutter. »Sie hat uns alle nach New York eingeladen, zum Sederabend.«
    Lucy spießt unsere Mutter mit ihrem Blick geradezu auf. »Du hast natürlich abgelehnt.«
    »Ich habe mich bedankt und gesagt, wir würden es uns überlegen.«
    »Mom«, schnauzt Lucy. Ihre kleinen Schüler müssen wahre Albträume bekommen, wenn sie das Gesicht zu so einer Wasserspeier-Fratze verzieht. »Warum bist du nur so feige? Das ist doch die reine Manipulation. Erkennst du das denn nicht? Wenn Annabel uns diesmal nicht besucht, schafft das einen Präzedenzfall und   –«
    »Lucy, entschuldige dich«, fährt mein Vater dazwischen, der in diesem Moment lieber Poker gespielt oder seine alten Schallplatten angehört hätte – Odetta, Buddy Holly, den frühen Bob Dylan – oder am besten gleich zur Massage in den Golfclub gefahren wäre und jetzt den Umstand verflucht, dass dort im März geschlossen ist. Überall wäre er lieber als hier, bei dieser schwierigen Tochter, dieser Tochter, die wie ein Berserker durchs Leben fegt und fetzt, egal, wie gut sie es auch meint – denn immerhin, gut meint sie es

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