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Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben

Titel: Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sally Koslow
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schwarzen Kaffee. Eine dünne Schneeschicht bedeckt Terrasse und Garten, und welche Sonne auch immer über Illinois scheinen mag, sie verbirgt sich hinter bedrohlich wirkenden Wolken.
    Seit meinem Tod hat keiner in der Familie länger als bis Tagesanbruch geschlafen, nicht mal mit Hilfe von Schlaftabletten. Lucy ist gestern Abend in den Pendlerzug nach Norden gestiegen und hat in unserem Kinderzimmer geschlafen – das übrigens eine echte Hommage an 1985 ist mit seinem Anstrich in Fliederfarben (meine Seite) und Aquamarinblau (ihre Seite) und den mittlerweile verblichenen Madonna-Postern (beide Seiten). Diesen Kurztrip hat sie an den letzten beiden Wochenenden schon gemacht, und sie glaubt, das täte sie, um meine Eltern zu trösten. Doch es ist eher andersherum. Lucy ist allein, meine Eltern haben sich gegenseitig und drücken ihren Kummer wortlos aus – im Auto, wenn meine Mutter meinem Vater den Nacken massiert; wenn er mit den Morgenzeitungen zurück ins Bett kommt; wenn sie sich in kalten, schlaflosen Nächten aneinanderschmiegen.
    »Pick nicht immer die Streusel vom Streuselkuchen«, sagt meine Mutter.
    »Behandle mich nicht wie eine Zehnjährige.«
    »Nicht streiten, ihr beiden.«
    Nicht, nicht, nicht, ihr beiden, ihr beiden. Die Hymne der Familie Divine. Tu dies nicht, tu das nicht.
    »Also, soll ich Barry anrufen?«, fragt Lucy. Dieselbe Frage hat sie gestern beim Abendessen schon gestellt. »Ich will wissen, ob es in dem Fall irgendwas Neues gibt, das er uns noch nicht erzählt hat.«
    »Nein, mein Schatz«, erwidert meine Mutter. »Das sollte lieber Dad machen.« Ich höre ihre Sorge, dass Lucy mit ihrer Fragerei Barry gegen sich aufbringen könnte. Lucy kann sogar ein Gespräch darüber, wie man Hamburger würzt, in ein militärisches Gefecht verwandeln.
    »Es ist noch zu früh, um in New York anzurufen«, sagt mein Dad, den Blick auf die Sportseiten gerichtet. Ihm graut davor, mit Barry zu sprechen.
Das Arschloch
, denkt er. Mein Vater ist nicht ganz der Gentleman, den er aller Welt präsentiert, habe ich feststellen müssen. Doch er ist sehr bemüht, Verständnis für Barry aufzubringen. »Der arme Kerl mag zwar ein eingebildeter Fatzke sein, aber er hat erst vor kurzem seine Frau verloren und muss nun allein eine Tochter großziehen«, erklärt er den Frauen seiner Familie. Ich vermute allerdings, dass er damit vor allem sich selbst dazu bringen will, Barry anständig zu behandeln.
    Die Divines sind entschlossen, Annabel zu Pessach zu sich zu holen. In den letzten drei Jahren haben Barry, Annabel und ich immer Thanksgiving mit Kitty verbracht und Pessach mit meinen Eltern, daher finden meine Eltern und Lucy, dass dieses Fest ihnen zusteht. Seit die Schiwe-Woche vorüber ist, rufen sie Annabel jeden Abend Punkt sieben an, doch die Gespräche sind genauso unergiebig wie das Kratzen an einem Insektenstich.
    »Annabel ist bestimmt schon auf«, sagt meine Mutter, »und schaut einen Zeichentrickfilm an.«
    »Aber Barry hat sich wahrscheinlich noch mal hingelegt«, entgegnet mein Vater. »Es ist Samstag. Gönn ihm doch mal ein wenig Ruhe.«
    »Ruhe?«, kreischt Lucy. »Und was ist mit meiner Schwester?«
    Meine Mutter stöhnt. »Erspar uns dein melodramatisches Getue, Lucy«, sagt sie, blickt in die Zeitung und tut, als würde sie lesen. Erschöpfung dämpft ihre Stimme. »Ruf um acht Uhr unserer Zeit an, Dan.«
    Mit tiefer Liebe im Blick salutiert er und erwidert dröhnend: »Jawoll, Sergeant.«
    Meine Familie widmet sich wieder dem Frühstück, doch eine Minute später schüttet Lucy ihren Kaffee ins Spülbecken. »Ich gehe laufen«, verkündet sie und rennt polternd die Treppe hinauf. Aus ihrer kleinen Reisetasche holt sie Sneakers und mehrere Schichten wintertaugliche Sportsachen. Ich habe einen ganzen Kleiderschrank voll sexy Klamotten hinterlassen – Spitze, Chiffon, enganliegendes Kaschmir, Dutzende tiefsitzender Stringtangas, unzählige Sachen aus Materialien, die sich besser als Geschenkpapier geeignet hätten, und ein nie getragenes, mit Spitze verziertes Wolljackett in Pink   –, doch Lucy schwört auf Fasern, die auch einem Trek von Kathmandu den Mount Everest hinauf standhalten würden. Wäre unser Vater Präsident der Vereinigten Staaten, das Codewort der Leibwächter für Lucy würde Patagonia lauten.
    Lucy bindet ihr lockiges Haar, das die Farbe von dunklem Ahornsirup hat, zu einem Pferdeschwanz und zieht eine warme Wollmütze darüber. Die Bindebänder hängen ihr über die Ohren wie

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