Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
meistens.
»Dan, beruhige dich«, sagt meine Mutter. »Lucy hat nicht ganz unrecht. Kitty behauptet, die Reise würde Annabel zu sehr aufregen.Sie glaubt, es sei noch zu früh für so was, es würde ihren Tagesablauf durcheinanderbringen. Und ich möchte nur das Beste für unsere Enkelin.«
»Barry!« Lucy stößt den Namen meines Ehemanns hervor, als handele es sich um eine Obszönität. Sie hat sich ausgezogen bis auf ihre langen Seidenunterhosen und den Sport-BH, der ihre Doppel-Ds zusammenpresst. Mein Vater sieht woandershin. »Was für ein Waschlappen. Lässt seine Mommy anrufen.«
Lucy kann meinen Eltern keinerlei Reaktion entlocken, dafür haben sie das schon zu oft erlebt. Meine Mutter geht zu ihrer einzigen noch lebenden Tochter und streicht ihr übers Haar. Doch Lucy schüttelt ihre Hand ab. »Ich ruf ihn selbst an«, sagt sie.
11
Ein Blick in den Rückspiegel
In London war Luke viel aufmerksamer als die Fotografen sonst, was mir sehr gefiel. Er hatte kein Problem damit, mich nach meiner Meinung zu fragen, und umwarb mich damit raffinierter und auch wirkungsvoller als es Rosen, kleine Geschenke oder ein gelegentlicher langer, bedeutsamer Blick vermocht hätten. »Wie willst du das Foto aufgebaut haben?« – »So oder lieber so?« – »Ich glaube, jetzt haben wir’s, oder soll ich noch einen Film verschießen?« Ganz beiläufig berührte er meinen Arm, wenn er mir solche Fragen stellte, und das erotische Knistern von Haut, die an Haut streift, endete, fast noch ehe es begann. Er muss bemerkt haben, dass ich ihm nie ausgewichen bin.
Es war genau, wie er gesagt hatte, Luke war überhaupt kein Partymensch. Jeden Abend zog er sich früh zurück. Ob er auf seinem Hotelzimmer zu Abend aß oder sich noch mit Freunden traf – oder mit einer Frau –, sagte er nicht, und erst am letzten Abend schlosser sich unserer Truppe doch mal an. »Auf Molly!«, rief er in die Runde, als der Abend begann. »Die es mir ermöglicht hat, dieses Exekutionskommando beinahe unbeschadet durchzustehen.«
»Auf Luke«, sagte ich, prostete ihm zu und dachte, dass er trotz seines guten Aussehens ein tiefsinniger und sensibler Mann war. »Und auf wunderschöne Ergebnisse.«
Und das waren sie. Als die Chefredakteurin unsere Bilder in der folgenden Woche unter die Lupe nahm, sprudelte das Lob nur so aus ihr heraus. »Wieso hat dieser Luke Delaney seine Zeit bisher bloß mit Modefotografie verschwendet?«, sagte sie. »Frag ihn, ob er fest für uns arbeiten will, ehe es jemand anders tut.«
Ende des Monats hatte sie ihn unter Vertrag genommen. Und von da an trafen Luke und ich nicht mehr nur zufällig bei einem Shooting aufeinander – wir sprachen fast jeden Tag miteinander, selbst wenn gar kein Meeting anstand. Irgendein Detail, an dem man sich festbeißen konnte, gab es immer zu besprechen: Blaue oder grüne Vorhänge im Art-déco-Viertel von Miami Beach? Die übergenaue Food-Stylistin mit den tausend Ideen oder lieber die etwas trägere, charmante, die uns mit selbstgebackenen Kürbismuffins verwöhnte? Brokatsofa oder cremefarbene italienische Chaiselongue?
All das geschah, als Brie gerade das Modeln aufgab – und zeitweilig auch mich –, um an der Columbia Law School Jura zu studieren. Während sie sich durch Vertrags- und Deliktsrecht kämpfte, wurden unsere Telefonate immer seltener, und Luke entwickelte sich in Vertretung zu meinem besten Freund. Zumindest habe ich mir das eingeredet. Er schrieb herrliche I M-Messages , und schon bald hätte man uns für Teenager halten können, die im Matheunterricht Zettelchen mit dem neuesten Tratsch austauschten.
Beim Blick in den Rückspiegel sehe ich, dass Barry und ich damals in unserer Ehe dem Glück so nahe waren, wie wir ihm je kommen würden – wenn ich das bloß erkannt hätte. Er hat mich nicht gerade angebetet, allerdings hätte ich mich der Anbetungauch nicht für würdig gehalten. Er war nicht interessiert an meinen Ansichten, doch darüber war ich in gewisser Weise sogar froh, denn bei manchen Themen hätte ich sicher nicht genug Selbstvertrauen gehabt, überhaupt eine zu äußern. Und er wies mich immer wieder auf Fehler hin, von denen ich bis dahin nicht mal etwas geahnt hatte: Meine Beine hätten länger sein können oder meine Antworten auf die Fragen anderer Leute kürzer. Meist konnte ich schon nachvollziehen, was er meinte. Doch trotzdem richteten Barry und ich uns in einem Leben ein, das zwar nicht unbedingt Ekstase bedeutete, aber mit der Routine von
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