Ich, Molly Marx, Kuerzlich Verstorben
sie und weiß im Moment selbst nicht, was sie mehr anmacht: Barrys Bettkünste oder seine Brieftasche. »Regentropfen auf den Fensterscheiben, Jazz oder Oper – das liegt ganz bei dir, ein Abstecher ins Schlafzimmer, so lange du willst. Soll ich weitermachen?«
»O ja – mach weiter«, sagt Barry und streicht über Annabels Locken. Sie zieht an seinem Ärmel.
»Daddy!«, ruft sie laut. »Der Zoo! Wann gehen wir los? Und du musst noch meine Dora-DVD suchen.«
»Du hast doch nicht ernsthaft vor, in den Zoo zu gehen, oder?«, fragt Stephanie.
»›Märchenabenteuer‹ ist meine Lieblings-DVD.« Annabel hängt sich an Barrys Bein. »Ich will sie angucken, bevor wir gehen.«
»Nein, jetzt nicht«, erwidert Barry.
»Sprichst du mit mir, Bär?«, fragt Stephanie. Kitty nennt Barry Bär. Schon allein deshalb habe ich es nie getan.
»Daddy! Ich will sehen, wie die böse Hexe Boots in einen Schlaf versetzt.«
»Bär, bist du noch dran?«
Annabel stampft mit dem Fuß auf. »Stephanie, im Moment ist es gerade etwas ungünstig«, erwidert Barry. »Ich rufe dich später an, ja?«
Sie lacht. »Aber nicht vergessen. Versprochen?«
»Versprochen«, sagt er und legt auf. Die kultivierte Verführung ist schlichtem Genervtsein gewichen.
»Dora muss sich in eine echte Prinzessin verwandeln, damit sie Boots wieder aufwecken kann«, ruft Annabel und bricht in Tränenaus. »Er
muss
wieder aufwachen. Er ist Doras bester Freund. Er muss.«
»Was ist ihrem Freund denn passiert, Schatz?« Barry zieht seine Tochter auf seinen Schoß.
»Daddy – das weißt du doch!«, heult Annabel. »Er hat eine verdorbene Banane gegessen. Eine ganz, ganz verdorbene.« Als erneut ein Schwall Tränen aus ihr herausbricht, beginnt auch Annabels Nase zu laufen, es tröpfelt auf ihr Nachthemd, bis sich schließlich ein langer feiner Schleimfaden am Ohr ihres Hasen Alfred verfängt. »Wir gehen nicht in den Zoo, oder?«
»Nein, Kätzchen, ich glaube, das ist keine gute Idee«, sagt Barry und versucht ziemlich erfolglos, ihr mit dem Ärmel seiner Nylonregenjacke die Nase abzuwischen. »Heute nicht.«
»Du Lügner!«, ruft Annabel. »Du lügst immer!« Als sie durch die Tür rennt und sie krachend hinter sich zuschlägt, sehe ich Lucy vor mir, im Alter von ungefähr vier Jahren: meine Schwester, die völlig die Beherrschung verloren hat und wie ein kleines Kraftwerk wirkt, vor allem neben mir, die ich passiv wie ein Keks danebenstehe. Hilflos sehe ich zu, beeindruckt von Annabels starkem Willen. Wie soll Barry je allein mit ihr fertig werden?
»Gottverdammt, Molly – was zum Teufel soll ich jetzt tun?«, sagt Barry, ballt die Hände zu Fäusten, legt den Kopf auf den Küchentisch und schlägt ihn ein paar Mal leicht dagegen. Ich sehe Tränen – ist das Kummer oder Frust? Ich kann es nicht sagen. »Molly, du hättest nicht sterben sollen. Du hättest nicht sterben sollen.«
Ich hatte schon ganz vergessen, dass ein Mensch zugleich schreien und weinen kann.
Ich leide mit meiner Annie-Belle, die ihre Mommy verloren hat. Ich leide mit meiner Schwester Lucy, denn wie schwer muss das alles für sie sein. Ich leide mit meinen Eltern, denen es zur Hälfte das Herz gebrochen hat. Ich leide mit ihnen, und ich leide auch selbst, weil ich all diese gequälten Menschen, die ich liebe und die ich in ihrem Kummer zurücklassen musste, so sehr vermisse.Ich leide darunter, dass ich mein Leben so sehr vermisse. Ich würde jederzeit bei Regen und Matsch in den Zoo gehen. Ich würde mich in den Mist stellen, die fürchterlichsten Gerüche ertragen, wenn ich nur noch einmal einen einzigen Tag lang leben könnte.
Am meisten überrascht mich, dass ich noch etwas anderes, etwas Neues empfinde. Ein Gefühl wie ein fremdartiges Gewürz, dessen Namen ich nicht kenne und von dem ich nicht einmal sagen kann, ob ich es mag. Ich empfinde etwas für Barry.
Ich bin so auf meine Gedanken fixiert, dass ich die Hand auf meinem Arm kaum spüre. Bob steht neben mir. »Manchmal«, sagt er, »ist es besser, nicht zuzusehen. Oder zuzuhören.« Doch mit einer Handbewegung verscheuche ich ihn. Ich kann weder das eine noch das andere lassen.
17
Zitronentarte
»Rüben?«, sagte Barry. »Schon wieder?«
Während meiner Schwangerschaft war ich regelrecht süchtig nach roten Rüben, die ich bis dahin nur in Dosen und höchstens mal als Sonderangebot gekauft hatte. Barry fing schon an, mich »die Rübenkönigin« zu nennen, was ich als Kompliment auffasste, nicht nur weil der gleichnamige
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