Ich muss dir etwas sagen
mehr Schmerz empfindet als ein 30jähriger Softwareingenieur, schließlich hat der Manager bedeutend mehr
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verloren.
Der tatsächliche Verlust ist also das beste Maß für subjektiven Schmerz. Ich denke, Sie werden staunen, wie genau Sie die
Verletztheit, die Ihre Worte verursachen werden, einschätzen können, wenn Sie sich fragen, was dem anderen dadurch
verlorengeht.
Angenommen, Sie möchten jemandem Ihre Empfindungen
mitteilen. Etwa: Ihr Vater bittet Sie um einen Gefallen, und Sie wollen ihm sagen, daß Sie immer noch wütend darüber sind, daß er Sie als Kind oft eingeschüchtert hat. Aber Sie befürchten, ihn damit zu sehr zu verletzen. Bei Ihren Überlegungen fällt Ihnen auf, daß er lediglich die Überzeugung verliert, Sie hielten ihn für einen ganz wundervollen Menschen. In Zukunft gibt es also
mehr zu gewinnen als zu verlieren, wenn Sie es ihm sagen, weil Sie nun gemeinsam eine Chance haben, dies alles zu
verarbeiten.
Beruht sein Selbstrespekt jedoch nur auf der Überzeugung, er sei ein guter Vater gewesen, und ist er nicht fähig, überhaupt über solche Sachen zu reden, so wird sein Verlust immens sein, und Sie sollten noch einmal überprüfen, ob es Ihnen das wert ist.
Am Arbeitsplatz
Kritik am Arbeitsplatz verursacht oft weitaus mehr Schmerz, als man meint. Zum Beispiel: Sie sagen einer Mitarbeiterin, ihre Berichte seien schlecht recherchiert und wenig durchdacht.
Damit wollen Sie - von Ihrer Warte aus betrachtet - lediglich auf bessere Berichte hinwirken, denn schließlich sind Sie darauf angewiesen. Aber aus der Sicht der Mitarbeiterin hat sich gerade eine dunkle Wolke über ihr Selbstwertgefühl ausgebreitet, und sie sieht wahrscheinlich schwarz für ihre Zukunft. Sie erwartet nun, bei Beförderungen nicht mehr berücksichtigt zu werden.
Sie hat das Gefühl verloren, klug und kompetent zu sein. Daß Sie diesen Schmerz verstehen, heißt jedoch nicht, auf die Kritik
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verzichten zu müssen, sondern lediglich, daß Sie womöglich noch einmal darüber nachdenken, was genau Sie sagen wollen und wie.
Oft unterschätzen wir bei aller berechtigten Kritik den
Schmerz, den unsere Worte auslösen können, weil wir so darauf konzentriert sind, was wir ändern wollen, ohne zu beachten, was dem anderen durch unsere Worte verlorengeht.
Ein Schleier wird gelüftet
Die Gefühle anderer brauchen kein Geheimnis für uns zu sein.
Sie können sich ein gutes Bild davon machen, wenn Sie sich überlegen, was der Betreffende in der gegenwärtigen Situation verliert und befürchten muß, in Zukunft zu verlieren. Wenn Sie sich die Verluste bei einer Entlassung vorstellen können, dann können Sie sich auch denken, was der Person verlorengeht, der Sie Ihre Wahrheit sagen. Dieser Verlust führt zu dem
emotionalen Schmerz, der bei der Entscheidung, ob Sie die
Wahrheit erzählen oder nicht, unbedingt auf der Waagschale liegen sollte.
Denken Sie noch einmal an Derek und Mimi: Er beschloß, ihr nicht zu sagen, was er von ihren kleinen Brüsten hielt, weil ihm bewußt war, was sie dabei verlieren und welchen Schmerz das verursachen würde. Und dieser Schmerz hatte mehr Gewicht als seine Wahrheit.
Frage 5: Gibt es eine gemeinsame Zukunft?
Hinter dieser Frage steckt vielleicht auch die Lösung für das alte Rätsel, weshalb wir zu Fremden so höflich sind, während wir mit unseren Nächsten ziemlich heftige Streite austragen. Wir sind freundlich zu Fremden, weil es sich nicht lohnt, mit
Menschen zu diskutieren, die man sowieso nicht wiedersieht.
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Weshalb sich also die Mühe machen?
Anhand dieser Frage gilt es nicht nur zu entscheiden, ob Sie dem anderen die Wahrheit erzählen sollten, weil Sie eine
gemeinsame Zukunft haben, sondern auch, wieviel Nähe Sie
sich in der Beziehung wünschen.
Die Faustregel lautet etwa: Je mehr man sich eine Zukunft mit dem anderen wünscht, desto eher wird man seine Wahrheit
äußern. Wer jedoch Angst vor Konfrontationen hat und davor, Gefühle zu verletzen, handelt meist so, als wäre das Gegenteil wahr, egal wie raffiniert er dabei vorgeht. Je konfliktscheuer ein Mensch ist, desto mehr wird er seine Beziehung vor Problemen schützen wollen, da er ja dort am verletzlichsten ist.
Konfrontationsvermeider reden mit jedem über ihre Gefühle und was sie stört, außer mit der Person, die das eigentlich hören müßte. Das mag die Dinge kurzfristig zwar leichter machen, aber die Beziehung wird auf Dauer belastet, und man fragt sich Jahre später vielleicht,
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