Ich muss dir etwas sagen
müßte. Ein Mann, mit dem Sie ein erstes Rendezvous haben, hat kein Recht auf Ihre sexuelle
Vorgeschichte, aber wenn Sie intim mit ihm werden wollen, so hat er ein Recht auf jenen Teil Ihres Vorlebens, der für ihn ein Risiko darstellen könnte.
Daraus folgt der nächste Punkt: Das Recht eines Menschen,
über Dinge Bescheid zu wissen, basiert nicht nur darauf, was er uns bedeutet, sondern auch darauf, was das Wissen für ihn
bedeutet.
Frage 8: Was kostet es den anderen, nicht Bescheid zu
wissen?
Zum Beispiel: Wenn man einer sexuell übertragbaren Krankheit ausgesetzt gewesen sein könnte, muß man denjenigen, mit dem man die Nacht verbringen möchte, darüber aufklären. Weshalb?
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Da er sonst nicht entscheiden kann, ob ein Kondom ausreicht oder ob Sex im Moment wohl doch nicht das richtige ist.
Das Gewicht dieser Frage läßt sich auch am Beispiel mit dem Lieferanten erläutern. Wir hatten festgestellt, daß es sich lediglich um ein Geschäft handelt. Wenn man ein besseres
Angebot bekommt, wechselt man den Lieferanten. Der Händler, der Ihnen Heftzwecke verkauft, hat kein Recht darauf, Bescheid zu wissen, daß Sie keine Geschäfte mehr mit ihm machen
wollen. Aber mal angenommen, Sie wären sein Hauptkunde und sagten ihm nicht Bescheid. Das geschieht öfter, als man denkt.
Viele große und mittlere Unternehmen kaufen Güter und
Dienstleistungen bei Unternehmen, die außer ihnen kaum andere Kunden haben und die pleite gehen, wenn Sie das Geschäft mit jemand anderem machen. Weil es sich um eine
Geschäftsbeziehung handelt, könnte man der Meinung sein,
diese hätten kein Recht darauf zu erfahren, daß man darüber nachdenkt, den Lieferanten zu wechseln. Wenn man jedoch den Verlust berücksichtigt, den das verursacht, so ist offensichtlich, daß man Bescheid sagen muß. Man gäbe dem Unternehmen
sonst nicht einmal die Chance, gegebenenfalls die Preise zu senken oder andere Zugeständnisse zu machen, die einen zum Bleiben bewegen könnten. Außerdem gibt man der Firma keine Zeit, neue Kunden zu suchen oder die Bank um einen Kredit zu bitten, bevor man sich aus dem Geschäft verabschiedet.
Eine moralische Pflicht
Es handelt sich lediglich ums Geschäft, aber die Tatsache, daß es den anderen viel kosten wird, verpflichtet moralisch dazu, die Wahrheit zu sagen. In jedem Fall gilt aber, diese Kosten richtig abzuwägen. Nehmen wir einmal an, Sie möchten Ihrer Partnerin sagen, daß Sie doch lieber kein Kind wollen. Ihre Angst, diese Aussage könne riesige Schockwellen verursachen, verleitet Sie zu dem Gedanken, es sei wahrscheinlich besser, nicht darüber zu reden. Und vielleicht lautet Ihr guter Grund: „Ich sehe nicht ein,
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wie es ihr irgendeinen Schaden zufügen könnte, nicht darüber Bescheid zu wissen, daß ich lieber nicht Vater werden möchte.”
Sie haben damit sogar recht, wenn es sich um ein eher
zeitweiliges, ein vergängliches Gefühl handelt. Aber wenn es Ihnen ernst ist und - ganz wesentlich in dieser Hinsicht - es sich um eine dauerhafte Beziehung handelt, dann könnte Sie Ihr
Schweigen sehr viel kosten.
So könnte dieses Schweigen zu einem stillen Vorwurf werden
-Sie nehmen es ihr übel, nichts sagen zu können -, der den Rest Ihres Lebens an Ihnen nagt. Oder es könnte bedeuten, daß Ihre Kinder, die dann trotzdem gekommen sind, es immer mit einem halbherzigen Vater zu tun haben, der seiner Frau den Löwenteil der Verantwortung aufhalst. Sehen Sie mal vierzig Jahre in die Zukunft. Wird Ihre Frau nicht sagen: „Ich wünschte, du hättest mir damals gesagt, was du empfindest?” Meinen Sie nicht, daß sie wahrscheinlich sagen wird, sie hätte einen hohen Preis für ihr Unwissen zahlen müssen?
Langfristige Folgen
Was aber sind die langfristigen Folgen, wenn man eine
Wahrheit verschweigt? Dies läßt sich vielleicht mit dem
Sinnbild von Kieselstein und Alge beantworten, die man beide in einen Teich wirft. Der Kieselstein verursacht kurzzeitig Wellen, aber die Alge verändert den Teich langfristig und kann unter Umständen sogar alles andere Leben ersticken. Man muß sich also fragen, ob die zu berichtende Angelegenheit eher dem Kieselstein ähnelt, dessen Wellen bald wieder verschwunden sind, oder der Alge, die mit der Zeit den ganzen Teich in
Mitleidenschaft zieht und vielleicht sogar zum stinkenden
Tümpel verkommen läßt.
Vor einigen Jahren rief mich um zwei Uhr morgens eine
Klientin an, just an dem Tag, an dem sie heiraten wollte.
Patricia, 24 Jahre alt,
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