Ich muss Sie küssen, Miss Dove
vollem Mund", tadelte Antonia ihren Enkel, als wäre er ein Siebenjähriger und nicht ein reifer Mann von sechsunddreißig Jahren. „Und ihr, Mädchen, hört auf, eine neue Frau für euren Bruder finden zu wollen. Dadurch wird er nur noch entschlossener, sich selbst erst gar nicht auf die Suche zu begeben. Verständlich, nehme ich an", fügte sie widerwillig hinzu, „dass er ungern wieder heiraten möchte, nach dieser unsäglichen Amerikanerin."
Diese unsägliche Amerikanerin — so pflegte Harrys Großmutter seine geschiedene Frau zu nennen. Er hatte nichts gegen diesen Ausdruck. Er zog es ebenfalls vor, nicht über Consuelo zu sprechen.
„Eine einzige schlechte Erfahrung sollte dich nicht davon abhalten, es noch einmal mit der Ehe zu versuchen", wandte Phoebe ein.
„Die Stimme der Erkenntnis", erwiderte er und versuchte seine jüngste Schwester von dem unerfreulichen Gesprächsinhalt abzulenken, in dem er sie aufzog.
„Wir wollen doch nur, dass du glücklich bist."
„Ich weiß, Engelsgesicht, und ich liebe dich dafür." Er gab ihr einen liebevollen Kuss auf die Wange. „Aber wieder zu heiraten würde mich nicht glücklich machen. Vertrau mir.”
„Wie taktlos von dir, Harry, so etwas zu sagen, wenn meine eigene Hochzeit doch in zehn Monaten stattfindet", schaltete Diana sich wieder mit belustigter Stimme ein. „Im Gegensatz zu dir finde ich es äußerst aufregend, einen zweiten Versuch zu wagen. Edmund ist der wunderbarste Mann, dem ich je begegnet bin."
Dianas erste Ehe war sehr unglücklich gewesen, und obwohl ihr Mann ihr damals schrecklichen Kummer bereitet hatte mit seinen endlosen Seitensprüngen, war er doch so zuvorkommend gewesen, bei einem Eisenbahnunglück ums Leben zu kommen. Trotz all des Leids, das sie hatte ertragen müssen, hatte sie doch nie ihren festen Glauben daran verloren, dass Liebe und Heirat unbedingt zusammengehörten. Sechs Jahre nach dem Tod ihres ersten Mannes war sie bereit, eine neue Bindung einzugehen. Hoffentlich wurde sie dann für all ihren Kummer entschädigt. Harry wünschte es ihr von Herzen, aber das hieß nicht, dass er vorhatte, ihrem Beispiel zu folgen.
„Du bist durch und durch romantisch, Diana, das warst du immer schon."
„Und was ist mit meinem Verlobten? Edmund hat genau die gleiche Erfahrung mit der Ehe gemacht wie du, musst du wissen. Er verliebte sich ebenfalls in eine Amerikanerin und heiratete sie. Seine Scheidung war genauso bitter wie deine, aber im Gegensatz zu dir ist er dadurch nicht zynisch geworden."
Zynisch? Der alte Schmerz lebte wieder auf, ein schwaches Echo des Gefühls, das Harry in jener Nacht empfunden hatte, als er die Wahrheit über seine Frau erfahren hatte. In der Nacht, als sie ihn verlassen und er endgültig den Glauben an die ewige Liebe aufgegeben hatte. „Ich bin nicht zynisch", log er. „Ich sehe nur keinen Grund, warum ich ein zweites Mal heiraten sollte."
„Keinen Grund?", Seine Großmutter hob den Kopf und sah ihn missbilligend an. „Was ist mit einem Erben?"
„Den habe ich bereits. Cousin Gerald."
Antonia schnaubte verächtlich.
„Aber Grandma, er ist ganz wild darauf! Jedes Mal, wenn er nach Marlowe Park kommt, zählt er das Silber, fragt nach dem Entwässerungssystem und verbringt Stunden damit, den Verwalter auszuhorchen. Ich würde es nicht gutheißen, so viel Ehrgeiz einfach zu vergeuden."
Antonia konnte nicht darüber lachen. „Hör auf, Unsinn zu reden, Harrison. Das machst du immer, wenn du einem unbequemen Thema ausweichen willst. Du bist Viscount, da ist es deine erste und einzige Pflicht, dich gut zu verheiraten und Söhne zu bekommen."
Grandma lebte wirklich noch in einer anderen Welt. Sie konnte einfach nicht akzeptieren, dass der Landadel heutzutage völlig mittellos war. Harry hatte schon vor Jahren erkannt, in welche Richtung der Wind wehte. Für eines konnte er Consuelo dankbar sein, und das war ihr Vater. Der alte Mr. Estravados hatte ihm eine wertvolle Lektion mit auf den Weg gegeben. Es waren die Industriekapitäne, so hatte er Harry erklärt, und nicht die Adeligen, die in der Zukunft Geld und Macht in den Händen halten würden. Harry war so klug gewesen, diese Worte ernst zu nehmen, und das hatte sich in den letzten vierzehn Jahren nicht schlecht bezahlt gemacht. Besitztümer zu haben und Söhne, die diese erben konnten, war nicht mehr so entscheidend wie früher.
Doch seine Mutter musste ihre eigene Meinung kundtun. „Harry, du musst heiraten und Söhne bekommen. Du musst
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