Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Blumen, so hatte sie einmal zu ihm gesagt, waren die einzigen akzeptablen Geschenke, die ein Gentleman einer Dame schenken durfte, die nicht seine Ehefrau war. Schmuck, Parfums und Satinpantöffelchen hingegen waren tabu. Als Emma das Papier entfernt hatte und der blaue Ledereinband eines Buchs zum Vorschein kam, war sie daher nicht überrascht. Doch als sie das Buch näher betrachtete und merkte, was es war, zerbrach ihr Herz in tausend Stücke.
Es war ein Tagebuch.
Emma wartete bis halb sechs, ehe sie sich auf den Weg zur Mittwochsbesprechung mit Harry im .Verlagsgebäude machte. Als sie dort eintraf, stellte sie erleichtert fest, dass Quinn schon gegangen war. Sie und Harry würden völlig ungestört sein, und das war auch nötig für das, was sie nun tun musste.
Harry hatte offenbar gehört, wie die Außentür zum Gang hinter Emma zugefallen war, denn er stand schon in der Tür zu seinem eigenen Büro, ehe sie überhaupt Quinns Schreibtisch erreicht hatte.
„Du kommst spät. Ich habe mir schon Sorgen gemacht."
Sie sah ihn an, und ihr zog sich vor Schmerz das Herz zusammen. Er war umwerfend attraktiv wie immer, aber es war sein besorgter Gesichtsausdruck, der ihr so zusetzte, dass sie beinahe ihren Entschluss wieder rückgängig gemacht hätte. Beinahe. Er sorgte sich um sie, das wusste sie. Sie aber liebte ihn, und dieser banale Unterschied änderte alles.
Sie hatte die ganze Zeit gewusst, dass das irgendwann geschehen würde. Es war wohl unvermeidlich, dass sich eine schüchterne, dreißigjährige Jungfer in ihren gut aussehenden Arbeitgeber verliebte; dass sich eine Frau, die noch nie im Leben geküsst worden war, in den Mann verliebte, dessen Küsse für sie der Schlüssel zum Paradies waren. Es war so vorhersehbar, dass es schon fast wie ein Klischee anmutete, und das Zusammensein mit ihm war so wunderschön gewesen, dass Emma allein beim Gedanken daran am liebsten gleichzeitig gelacht und geweint hätte. Es brachte sie dazu, sich nach mehr zu sehnen. Aber mehr gab es nicht. Auch das war ihr die ganze Zeit bewusst gewesen.
Den Tragegriff ihrer Aktentasche fester umklammernd ging Emma an ihm vorbei in sein Büro. „Ich habe die Mrs. Bartleby-Artikel für die Wochenausgabe dabei."
Er folgte ihr, aber anstatt sich hinter seinen Schreibtisch zu setzen, blieb er neben ihr stehen. „Stimmt etwas nicht?"
Sie stellte die Tasche auf den Schreibtisch und entnahm ihr einen kleinen Stoß Papier. „Für den darauf folgenden Samstag habe ich noch keine Entwürfe", sagte sie. „Ich bin nicht dazu gekommen." Eine Lüge, obwohl sie geschworen hatte, ihm gegenüber immer aufrichtig zu sein.
Er legte ihr die Hände auf die Schultern und drehte sie zu sich herum, aber sie konnte ihm nicht in die Augen blicken. Noch nicht. „Emma, hast du mein Päckchen erhalten?"
„Ja, Harry, das habe ich. Ich danke dir." Sie versuchte zu lächeln, ohne ihn dabei anzusehen. „Du sagst immer, du hättest kein Talent, Geschenke auszusuchen, aber das ist nicht wahr. Du machst wunderschöne Geschenke. Beauftrage niemals Quinn damit, sie für dich zu besorgen."
„Das werde ich nicht tun, aber ..." Er packte ihre Schultern fester. „Du bist schon wieder in einer so seltsamen Stimmung. Ich fange wirklich an, mir Sorgen zu machen. Willst du mir nicht verraten, was du hast?"
Sie zeigte auf den kleinen Papierstoß auf seinem Tisch. „Diese Mrs. Bartleby-Artikel sind die letzten, die ich für dich verfasst habe."
„Wie bitte? Aber warum denn das?"
„Ich werde einen Roman schreiben."
„Ausgezeichnet! Ich sagte dir doch, du solltest es unbedingt versuchen. Aber warum machst du nicht mit Mrs. Bartleby weiter? Glaubst du, du hättest nicht die Zeit, beides zu bewältigen?"
Sie schüttelte den Kopf und wich ein paar Schritte zurück. „Nein, das ist nicht der Grund. Du hattest recht, als du sagtest, dass aus Mrs. Bartleby nicht ich spreche. Es ist wirklich die Stimme von Tante Lydia, und ich bin nicht mehr dieselbe Frau wie vor sechs Monaten, die alles, was Tante Lydia behauptete, für die absolute Wahrheit hielt und diese Wahrheit mit allen anderen teilen wollte. Ich habe mich verändert. Deinetwegen."
Er lächelte. „Du glaubst jetzt auch, dass junge Frauen Wachteln essen und ruhig ein zweites Glas Wein zum Abendessen trinken sollten, nicht wahr?"
„Ja. Ich weiß, ich bringe dich in eine missliche Lage, wenn Mrs. Bartleby jetzt wegfällt. Sie ist mittlerweile so beliebt. Ich hoffe, das schadet der Gazette nicht allzu
Weitere Kostenlose Bücher