Ich muss Sie küssen, Miss Dove
deutete er auf ihre ineinander verschlungenen Hände. „Bitte verzeihen Sie, dass ich so aufdringlich bin, aber ... sind Sie miteinander verheiratet?"
Sie lachten sich an, aber es war die Frau, die antwortete. „Natürlich", erklärte sie. „Sie sind doch auch verheiratet, Mr. ... Williams." Sie betrachtete ihn mit wissendem Blick, dann schenkte sie ihm ein feines, weises Lächeln. „Sie haben es nur noch nicht gemerkt."
Erstarrte ihnen verblüfft nach, als sie ihren Weg fortsetzten, und hörte gerade noch, wie der Mann sagte: „Diese beiden wirken immer so glücklich. Ich hoffe, er macht sie bald zu einer ehrbaren Frau."
Als Harry so da stand, hatte er plötzlich das Gefühl, als bewegte sich die Erde unter seinen Füßen, als rutschte auf einmal alles in seiner Welt zum ersten Mal an den richtigen Platz. Er setzte sich wieder in Bewegung, immer schneller, bis er schließlich rannte. Ihm blieben nur zwanzig Minuten Zeit, um den nächsten Zug zurück nach London zu erreichen.
Es war Sonntag. und Teestunde in der Little Russell Street. Emma saß mit Mrs. Morris und den anderen Hausbewohnerinnen im Salon und betrieb gepflegte Konversation über lauter korrekte Themen. Das Wetter, wie immer ungewiss. Die Gesundheit der lieben Königin, immer ein Anlass zur Sorge. Die Mode, immer wieder schillernd. Mrs. Inkberry war zu Gast.
Man tauschte Gerüchte aus, beklagte sich über die Arbeit und verspeiste ordentlich viele Teeküchlein. Alle, bis auf Emma, die Klatsch nicht mochte, keine Arbeit mehr hatte und in ihrem Herzschmerz am vergangenen Abend fast ein Pfund Pralinen gegessen hatte. Allein beim Anblick des mit Süßigkeiten überladenen Tabletts wurde ihr übel. Die Frauen sprachen über die bevorstehende Hochzeit der lieben Beatrice. Beatrice strahlte vor Glück, und Emma versuchte angestrengt, nicht in Selbstmitleid zu versinken. Ein weiteres Thema war natürlich Mrs. Bartlebys Abschied von der Öffentlichkeit, der am Tag zuvor in der Zeitung gestanden hatte. Jede wollte Einzelheiten von Emma erfahren, doch als sie sich weigerte, auch nur ein Detail preis zu geben, ließen sie die Angelegenheit zum Glück fallen.
Emma hatte das Richtige getan und das wusste sie, aber dieses Wissen spendete nur wenig Trost. Sie vermisste Harry so schmerzlich. Die vergangene Woche war fast unerträglich gewesen, aber der heutige Tag war der Schlimmste. Es war Sonntagnachmittag, und sie lag nicht mit Harry in der Hängematte und döste. Jetzt befand sie sich wieder wie früher jeden Sonntagnachmittag in Mrs. Morris' Salon und trank Tee.
Verstohlen sah sie zum Sofa hinüber, wo Prudence und Maria saßen. Emma dachte wieder an die Nacht, als Harry ihr dort höchst unschickliche Dinge ins Ohr geflüstert hatte, und sie erinnerte sich an die vielen Male in dem kleinen Haus, als er alle diese Dinge in die Tat umgesetzt hatte.
Emma wandte den Blick ab und starrte in ihre Teetasse. Sie war nicht mehr Mrs. Bartleby. Sie war nicht mehr Scheherazade. Sie war nicht mehr die Geliebte eines Mannes. Sie war wieder die gewohnte Emma Dove, irgendwo auf halbem Weg zwischen dreißig und einunddreißig und zu lebenslangem Alleinsein verdammt.
Sie versuchte, ein heiteres Gesicht zu machen. Sie hatte ihren Roman angefangen, ganze sieben Seiten waren schon geschrieben. Aber sie befürchtete jetzt schon, dass es eine Liebesgeschichte werden würde, und das machte sie womöglich noch trauriger. Wenn Emma nicht einen so gefestigten Charakter besäße, hätte sie für manche Szenen wohl Zuflucht zu einem starken Drink genommen, so wie man das anderen Schriftstellern auch nachsagte. Angewidert sah sie in ihre Tasse. Gin, dachte sie. So viel reizvoller als Tee im Moment.
Sie hörte, dass die Haustür geöffnet wurde, und spürte einen herbstlich kühlen Luftzug in ihrem Rücken, aber sie blickte weiterhin in ihre Teetasse. Es interessierte sie nicht, wer da wohl noch gekommen sein mochte.
Und dann nahm sie etwas wahr. Eine kaum merkliche Veränderung im Raum, aufkommende Unruhe, erwachende Aufmerksamkeit. Und dann trat plötzliche Stille ein, bis auf das Rascheln von Röcken, dazu mehrere ganz leise, aber unmissverständliche Seufzer. Und dann sah Emma es sogar. Gegenüber von ihr griffen Prudence Bosworth und Maria Martingale sich gleichzeitig prüfend an ihre Frisuren.
Emma sah über ihre Schulter. Es war eigentlich nicht zu glauben, aber da stand Harry in der Tür zu Mrs. Morris' Salon, und bei seinem Anblick ging ihr das Herz über vor lauter
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