Ich muss Sie küssen, Miss Dove
denken, und schon war die Langeweile wieder da. Warum hatte sie dann einen solchen Erfolg? Er konnte es einfach nicht verstehen.
Und genau das, erkannte er plötzlich ungläubig, war das Problem.
Er selbst konnte nichts Reizvolles an Miss Doves Kolumne finden — andere jedoch schon. In nur zwei Monaten war ihre Mrs. Bartleby zu einer Sensation geworden. Wie hatte er sich nur so irren können, was die Reaktion der Leser betraf?
Ihr Vorwurf fiel ihm wieder ein, und er traf Harry wie eine Ohrfeige. Sie sind zu engstirnig.
Stimmte das? Er war immer so stolz darauf gewesen, modern und aufgeschlossen zu sein. War er irgendwann engstirnig geworden, ohne es zu bemerken? Er dachte an seine Redakteure, an all die Manuskripte, die sie ihm im Lauf der Jahre empfohlen hatten, und die er abgewiesen hatte ... Wie viele andere Mrs. Bartlebys waren im Papierkorb gelandet? Harry würde es nie erfahren.
Er hatte immer seinem Gespür vertraut, und das hatte ihn nie im Stich gelassen. Sein Erfolg als Verleger beruhte auf seiner Fähigkeit zu erkennen, was die Leute lesen wollten, und er hatte ihnen das immer zum genau richtigen Zeitpunkt angeboten.
Verlor er diese Fähigkeit? Besaß er dieses sichere Gespür nicht mehr? Selbstzweifel, zu denen er bisher nie Anlass gehabt hatte, stiegen in ihm auf. Waren ihm die Eigenschaften, die ihn zum erfolgreichsten Verleger Englands gemacht hatten, abhanden gekommen?
Harry blieb vor dem Eingang zum Hyde Park stehen, wo ein Junge inmitten von Zeitungsstapeln stand. Drei aus Harrys Verlag waren dabei, dazu die London Times und die Social Gazette . Harry kaufte eine Ausgabe der Letzteren, suchte sich eine freie Bank im Park und setzte sich. Und dann las er Wort für Wort die heutige Kolumne von Mrs. Honoria Bartleby.
Als er damit fertig war, hatte er alles darüber erfahren, wie man ein Hochzeitsfrühstück ausrichtet, aber warum Miss Dove damit die Leserschaft so stark ansprach, war ihm nach wie vor nicht klar. Andererseits hatte er verstanden, dass seine private Meinung über ihre Arbeit nicht länger eine Rolle spielte.
Harry lehnte sich auf der Bank zurück und dachte so nüchtern er konnte über die Situation nach. Das Verlegen von Zeitungen war ein gnadenloses Geschäft, ständig im Wandel begriffen. Er konnte es sich nicht leisten, engstirnig zu werden. Manche seiner gewinnbringendsten Unternehmungen in all den Jahren hatten mit unerwarteten Ereignissen angefangen, die er dann in gute Gelegenheiten umgewandelt hatte. Vielleicht war das ein solcher Moment. In Harry reifte eine Idee, und sein angeborener Optimismus kehrte zurück.
Nach ungefähr einer Stunde erhob er sich und wusste, es gab nur eins, was er tun konnte. Er würde sich mit Barringer treffen und dessen Verkaufsbedingungen akzeptieren. Und das musste sofort geschehen. So wie die Dinge sich gestalteten, würde ihn Miss Doves Erfolg weitere fünfzigtausend Pfund kosten, wenn er noch länger wartete.
Emma liebte ihr neues Leben. Sie liebte es, ihre Nachmittage in den Geschäften Londons zu verbringen, immer auf der Suche nach Informationen und Neuheiten für ihre Leser. Sie hatte Freude daran, ihrem Einfallsreichtum freien Lauf lassen zu können, wenn sie aus den banalsten Dinge etwas ganz Ungewöhnliches machte, so dass selbst die einfachste Hausfrau ihrer Familie ein raffiniertes Mahl zubereiten konnte oder die schwerstarbeitende Junggesellin sich ihre Wohnung hübsch und gemütlich einzurichten vermochte.
Sie liebte das Schreiben, und sie liebte es, ihr Geschriebenes gedruckt zu sehen. Sie liebte Mrs. Bartleby, denn wenn Emma sich morgens an ihre Schreibmaschine setzte und die Ratschläge ihrer erfundenen Figur tippte, glaubte sie wieder die Stimme ihrer Tante Lydia zu hören. Es war fast, als säße Tante Lydia dann neben ihr und freute sich mit Emma über ihren plötzlichen Erfolg.
Und sie war erfolgreich, überraschend erfolgreich sogar. Obwohl ihr früherer Arbeitgeber ihre Manuskripte abgelehnt hatte, war Emma selbst immer sicher gewesen, dass ihr besonderes Wissen und ihre Erfahrung für andere nützlich sein konnten. Trotzdem war sie überrascht, wie gefragt sie auf einmal war und mit welcher Geschwindigkeit der Erfolg gekommen war. Bereits nach einem Monat war sie jeden Samstagmorgen Stadtgespräch, und wenn sie um eine Gehaltserhöhung bat, bekam sie das Gewünschte von Barringer sofort. Auf die Art brauchte sie nicht mehr auf ihre Ersparnisse zurückzugreifen und konnte jetzt bequem allein vom Schreiben
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