Ich muss Sie küssen, Miss Dove
trotzdem gratulierten sie ihrer Freundin in aufrichtiger Freundschaft und versuchten, sich nichts von ihrem verständlichen Neid anmerken zu lassen.
Mrs. Morris und Mrs. Inkberry rückten näher heran und bewunderten den Ring mit einer Freude, die vollkommen frei war von weniger liebenswürdigen Gefühlen. Im Gegensatz zu ihren unverheirateten Gefährtinnen brauchten sie sich über ihre Zukunft keine Sorgen zu machen. Mrs. Morris war Witwe und hatte dieses Wohnhaus von ihrem Mann geerbt. Sie kam sehr gut allein zurecht. Mrs. Inkberrys Mann besaß eine Buchhandlung in der Nähe der Fleet Street, und obwohl das Paar recht beengt in der kleinen Wohnung über dem Laden leben musste, war es ein gemütliches Zuhause. Das Geschäft lief glänzend, und es war ihnen gelungen, ihre vier Töchter ohne Probleme großzuziehen. Obwohl Emma mit ihren dreißig Jahren die Hoffnung auf eine Ehe mittlerweile aufgegeben hatte, war sie nicht ganz gefeit vor Neid. Doch das war nichts im Vergleich zu der ungeheuren Befriedigung, die sie bei Beatrices Bemerkung empfand, Emma hätte einen entscheidenden Anteil an deren Glück gehabt.
„Beatrice, das müssen Sie uns erklären", sagte Mrs. Inkberry und trank einen Schluck Tee. „Was ist geschehen, dass Sie Mrs. Bartleby das Zustandekommen Ihrer Verlobung zuschreiben?"
„Richtig, Sie waren ja in Yorkshire, daher wissen Sie nicht, was sich zugetragen hat." Beatrice ließ sich von Mrs. Morris eine Tasse Tee einschenken und nahm sich ein Stück Kuchen von der Platte mitten auf dem Tisch. „Sie kennen Mrs. Bartleby natürlich."
Mrs. Inkberry nickte. „Selbstverständlich! Ich habe versucht, ihre Kolumne so oft wie möglich zu lesen, aber in Yorkshire bekommt man die Gazette nicht so leicht."
„Also gut", fuhr Beatrice fort, „Mr. Jones hatte mich schon seit Ewigkeiten darum gebeten, mich auf dem Heimweg vom Geschäft begleiten zu dürfen. Mrs. Morris aber wies mich aber darauf hin, dass sich das nicht schicken würde, weil wir ja beide unverheiratet wären. Die Leute könnten auf dumme Gedanken kommen."
„Sehr richtig von dir, meine liebe Abigail, zur Vorsicht zu raten." Mrs. Inkberry nickte Mrs. Morris zu. „Eine junge Frau ohne Familienangehörige kann gar nicht zurückhaltend genug sein im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Sie muss auf ihren Ruf achten."
„Ich weiß, Josephine", erwiderte Mrs. Morris. „Aber ich habe mich geirrt. Mrs. Bartleby schrieb in ihrer Kolumne, dass es durchaus akzeptabel sei, wenn Beatrice mit dem jungen Mann spazieren ginge."
„Wirklich?" Mrs. Inkberry war vollkommen sprachlos. Sie sah sich in der Runde um, und alle Frauen nickten bestätigend.
„Natürlich handelte es sich in dem Artikel nicht persönlich um mich", erzählte Beatrice und erklärte die Anstandsregel, die Emma vor sechs Wochen in ihrer Kolumne behandelt hatte. „Sehen Sie, Mrs. Inkberry, es war eigentlich ganz in Ordnung. Ich kenne Mr. Jones nun seit vier Jahren. Ich meine, wir sehen uns fast täglich. Ich schließe für Mrs. Wilson den Laden jeden Abend um sechs Uhr ab, und Mr. Jones verlässt zur gleichen Zeit die Anwaltskanzlei. Wir wohnen nur zwei Straßen voneinander entfernt und haben fast den gleichen Heimweg. Und was seinen Charakter betrifft, so muss er wohl einen guten haben, wenn er Angestellter bei einem Anwalt ist. Und manchmal, wenn wir beim Wagen des Straßenverkäufers anstehen, um uns etwas zum Mittagessen zu holen, habe ich beobachtet, dass er zwei Portionen kauft, um eine davon der armen Bettlerin zu geben, die immer den Müll durchsucht. Das sagt doch eine Menge über den Mann aus, nicht wahr?"
Emma stimmte ihr voll und ganz zu. Sie hatte diese ganz spezielle Kolumne, in der sie die gängigen Anstandsregeln bewusst ein wenig lockerer interpretierte, nur geschrieben, damit die arme Beatrice endlich mit ihrem ritterlichen jungen Mann zusammen nach Hause gehen konnte. Mrs. Morris hatte ein gutes Herz, aber sie war, ehrlich gesagt, ein wenig dumm und neigte dazu, in solchen Dingen etwas zu pingelig zu sein. Selbst Tante Lydia, die jahrelang mit Mrs. Morris befreundet gewesen war, hatte sie immer für etwas engstirnig gehalten.
„Nun, wenn Mrs. Bartleby sagt, dass das in Ordnung ist, Beatrice, dann ist die Frage damit ein für alle Mal beantwortet", stellte Mrs. Inkberry fest.
„Als ich das gelesen habe, war ich so glücklich und so erleichtert", meinte Beatrice. „Ich habe es gleich Mr. Jones erzählt. Wenn Mrs. Bartleby das in Ordnung findet, habe ich zu
Weitere Kostenlose Bücher