Ich muss Sie küssen, Miss Dove
vorher meine Karte bringen, und dann können Sie mich ganz wie es sich gehört unten in dem Salon empfangen. Ich hoffe, das entspricht Ihren Vorstellungen von Anstand."
„Ja, das tut es. Und in Anbetracht unserer neuen Zusammenarbeit werde ich mich bemühen, Komplimente gewandter entgegenzunehmen."
„Und Sie werden von nun an auch öfter lächeln."
„Ja, ja, gut, das auch! Sind Sie jetzt zufrieden?"
„Zufrieden?" Er richtete den Blick auf ihren Mund und bemerkte zum ersten Mal, dass ihre Unterlippe voll und weich aussah. „Nein, ich bin noch nicht zufrieden."
Derartige Andeutungen schienen bei ihr reine Zeitverschwendung zu sein, denn sie machte jetzt ein völlig verwirrtes Gesicht, das deutlich verriet, dass sie nicht die geringste Ahnung hatte, was er meinte. Wahrscheinlich war das auch besser so. Sie zu küssen war keine gute Idee. Sein Verlangen regte sich erneut. Eine ganz schlechte Idee sogar.
„Wollen wir jetzt die Änderungen besprechen?"
„Änderungen?"
Sie zeigte auf seine Aktentasche. „Sind Sie nicht deswegen hier?"
„Natürlich, ja." Harry hatte große Mühe, sich an den Grund für sein Kommen zu erinnern. „Ganz recht."
„Nun gut. Gehen Sie nach unten in den Empfangssalon, ich folge Ihnen gleich."
„Wir könnten doch auch hier bleiben", schlug er durchtrieben schmunzelnd und nur halb im Scherz vor. „Wir könnten etwas Schwung in das Leben Ihrer Nachbarn bringen und ihnen ein paar aufregende Gesprächsthemen liefern!"
Sie schien diesen Vorschlag bei Weitem nicht so reizvoll zu finden wie er. „Wenn meine Mitbewohnerinnen über etwas Aufregendes reden wollen, dann ganz gewiss nicht über mich", teilte sie ihm mit und hielt ihm die Tür auf. „Gehen Sie", drängte sie ihn flüsternd, als er sich nicht von der Stelle bewegte. „Und sorgen Sie dafür, dass Sie von niemandem gesehen werden."
Er sah sie mit gespieltem Kummer an. „In Ihnen steckt kein Abenteuergeist, Miss Dove", murmelte er kopfschüttelnd und verließ die Wohnung. „Gar keiner."
Wie ein Dieb stahl er sich nach unten. Bei dem Versuch, unentdeckt durch eine Damenpension zu schleichen, kam er sich vor wie der hinterhältige Bösewicht in einer Theaterkomödie, aber die ganze Heimlichtuerei erwies sich schließlich als unnötig. Auf dem Weg in den Empfangssalon begegnete er keiner Menschenseele. Im Haus herrschte Grabesstille.
Er setzte sich auf ein schrecklich unbequemes, mit Rosshaar gepolstertes Sofa, aber er brauchte nicht lange zu warten. Miss Dove betrat den Salon schon kurze Zeit später.
„An welche Änderungen hatten Sie denn nun gedacht?", erkundigte sie sich und nahm neben ihm Platz.
Harry reichte ihr die mit der Maschine getippten Seiten, die sie ihm drei Tage zuvor geschickt hatte und die nun mit seinen handschriftlichen Bemerkungen und Kommentaren versehen waren.
Emma fing an, sie durchzublättern, aber schon gleich darauf sah sie ihn an. „Sie hatten es ernst gemeint", stellte sie fest und zeigte auf das Fragezeichen am Rand der ersten Seite. „Sie haben mich gar nicht aufgezogen."
„Nun, ich gebe zu, ich bin nicht ganz auf dem Laufenden, was junge Damen essen dürfen, aber warum nur die Flügel? Warum nicht auch die anderen Teile des Hühnchens?"
„Weil die Flügel das Einzige sind, wofür es keine menschliche Entsprechung gibt."
„Wie bitte?" Er brauchte eine Weile, bis ihm langsam dämmerte, was sie meinte. „Jetzt wollen Sie mich aber aufziehen, Miss Dove", meinte er. „Eine junge Dame darf weder Hühnchenschenkel noch Brust essen, weil Menschen Schenkel und Brüste haben?"
Sie errötete leicht bei seinen Worten. „Ich weiß, das klingt vielleicht etwas übertrieben, aber ..."
„Übertrieben?" Er fing zu lachen an. „Das ist zu merkwürdig!"
„Sie sehen das zweifellos so", erwiderte sie und warf ihm einen tadelnden Blick zu. „Aber es ist eine äußerst delikate Angelegenheit."
Er zeigte auf die Seiten in ihrer Hand. „Wenn das so ist, warum ist es dann jungen Damen nicht erlaubt, Wachteln zu essen? Der Flügel einer Wachtel, das wage ich zu behaupten, ist kaum ausreichend für eine junge Dame, denn von seinem Fleisch könnten gerade einmal zwei Ameisen satt werden."
„Genau, und deswegen werden Wachteln ja auch im Ganzen serviert. Da junge Damen aber keine ... hm ..."
„Brüste", half er aus. Er amüsierte sich königlich.
„So etwas dürfen sie jedenfalls nicht zu sich nehmen. Und weil Wachteln nun einmal im Ganzen serviert werden, kommen sie für eine junge Dame
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