Ich muss Sie küssen, Miss Dove
Fleischsorten ausließ, starrte er wieder auf ihren Mund und versuchte sich erneut auszumalen, wie es wohl sein mochte, Miss Dove zu küssen. Als sie endlich verstummte, waren ihm mindestens siebenundzwanzig verschiedene Möglichkeiten eingefallen.
Die eintretende Stille riss Harry aus seinen sinnlichen Träumen, und er zuckte schuldbewusst zusammen, als sie ihn erwartungsvoll ansah und offenbar seine Meinung hören wollte.
,,Sehr vernünftig", lobte er, obwohl er kein einziges Wort von dem mitbekommen hatte, was sie in der vergangenen Viertelstunde gesagt hatte. „Ich stimme dem völlig zu."
Sie lächelte ihn strahlend an, also hatte er wohl die richtige Antwort gegeben, aber er wusste, er durfte sich nicht weiter so ablenken lassen. Was für Miss Dove als seine Sekretärin gegolten hatte, galt jetzt womöglich erst recht. Wenn sie erfolgreich zusammenarbeiten wollten, durfte er sich nicht mehr in lustvollen Vorstellungen von ihr verlieren. Doch als er sich daran erinnerte, wie sich ihre Rundungen unter seinen Händen angefühlt hatten und wie betörend der Duft nach Talkum und frischem Leinen gewesen war, fragte er sich, warum ihm noch nie aufgefallen war, was für ein hübsches Lächeln sie hatte. Langsam ahnte er, dass es genau so schwer werden würde, die Fantasien über Miss Dove aus seinem Kopf zu verdrängen, wie das Unheil auf der Welt wieder in die Büchse der Pandora zu verbannen. Kompliziert. Äußerst kompliziert.
Emma fand, dass das Gespräch mit Lord Marlowe sehr gut verlaufen war. Überraschend, wenn man bedachte, wie alles angefangen hatte.
Sie lag im Bett, blickte nach oben an die dunkle Zimmerdecke und hörte weder Mr. Pigeons Schnurren neben sich auf dem Kopfkissen noch den Londoner Verkehrslärm, der durch das Fenster in ihr Zimmer drang. Sie war in Gedanken ganz mit Lord Marlowe beschäftigt und mit dem, was am Nachmittag passiert war.
Er hatte sie berührt. Das war zuvor noch nie geschehen. Sicher, seine Absicht, ihr von der Leiter zu helfen, war durchaus ritterlich gewesen, aber er hatte sie nicht ritterlich ausgeführt. Stattdessen hatte er mit den Händen über ihre Hüften gestrichen und sie dann dort ruhen lassen.
Schlagartig erinnerte sie sich an Tante Lydias zahlreiche Warnungen über Männer und deren triebhafte Natur, und Emma begann, sich unbehaglich zu fühlen. Sie wusste, sie hätte seine Hände wegschieben und ihm unmissverständlich zu Verstehen geben müssen, was sie von einem solchen Benehmen hielt. Aber sie war einfach stehen geblieben und hatte sich von ihm berühren lassen, einerseits zu schockiert, um sich bewegen zu können, andererseits durchströmt von einem seltsamen, glühenden Gefühl, das sie noch nie zuvor verspürt hatte.
Kein Mann hatte sie je angefasst, wenigstens nicht so wie Marlowe an diesem Tag.
Sie musste an Mr. Parker denken, den einzigen Mann, mit dem sie so etwas Ähnliches wie Vertraulichkeiten ausgetauscht hatte. Ihre freundlichen Unterhaltungen im Salon von Tante Lydias gemütlichem Häuschen hatten in Sesseln stattgefunden, die mindestens vier Meter voneinander entfernt standen. Bei ihren Spaziergängen im Park, als er ihr von seinen Plänen, Anwalt werden zu wollen, erzählt hatte, waren sie sittsam nebeneinanderher gelaufen, ohne dass sich auch nur ihre Hände berührt hätten. Ihr gemeinsamer Walzertanz war über jeden Vorwurf erhaben gewesen, sie hatten genau den richtigen Abstand zueinander eingehalten. Und stets war irgendwo Tante Lydia ganz in der Nähe gewesen, um über Emmas Tugend und ihren Ruf zu wachen, allzeit bereit einzugreifen, falls sich der junge Mr. Parker ihrer Nichte gegenüber unwürdig verhalten sollte.
Aber das hatte er nie getan. Ein Händedruck, ein angedeuteter Handkuss, ein Arm, mit dem er sie leicht beim Walzer umfasste. Sonst nichts. Nichts, was sich nicht gehört hätte.
Keine Hände auf ihren Hüften. Keine liebkosenden Daumen in ihrem Kreuz, die Emma auf seltsame Weise schwindelig werden ließen. Gar nichts in der Art.
Emma schloss die Augen und legte sich die Hände dorthin, wo Marlowe sie berührt hatte. Ehe sie sich daran hindern konnte, strich sie sich genauso über die Hüften, wie er es getan hatte, und sofort war dieses glühende Gefühl wieder da. Abrupt ließ sie die Hände sinken.
Was Marlowe sich herausgenommen hatte, war genau das, wovor Tante Lydia sie immer gewarnt hatte; genau das, was keine gut erzogene Frau jemals gestatten durfte; genau das, was Emma stets dazu bewegt hatte, kühle,
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