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Ich muss Sie küssen, Miss Dove

Titel: Ich muss Sie küssen, Miss Dove Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Laura Lee
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er einiges über seine ehemalige Sekretärin hinzu. Er stellte fest, dass sie gut zuhören konnte, und dadurch besaß sie das natürliche Talent, das Vertrauen ihrer Mitmenschen zu gewinnen und ihnen Informationen zu entlocken. Die Frau eines Schlachters verriet ihr, wo man den besten Senf kaufen konnte. Der Straßenhändler brachte ihr bei, wie man die köstlichsten Fleischpasteten zubereitete. Der Polizist an der Ecke Maiden Lane und Bedford Street teilte ihr mit, welche Nebenstraßen sicher waren und welche nicht. Sie ließ sich bereitwillig von jedem über jedes Thema unterrichten, lauschte aufmerksam und machte sich Notizen in einem kleinen Buch. Kein Wunder, dass sie wusste, wo man die elegantesten Stiefel bekam und wie man Tiere aus Papier faltete. Sie nutzte einfach eine Grundwahrheit über die menschliche Natur aus - die Menschen liebten es, andere an ihrem Wissen teilhaben zu lassen, weil sie sich dann wichtig fühlten.
    Harry hielt sich selbst bewusst im Hintergrund, und bisweilen schien Miss Dove so vertieft in ihre Gespräche mit anderen Leuten zu sein, dass sie seine Anwesenheit ganz vergaß. Er genoss es, sie unbemerkt beobachten zu können, aber es war ganz ausgeschlossen, dass er noch einmal einen verheißungsvollen Blick auf die Umrisse ihres Körpers im Sonnenlicht erhaschen konnte. Jedenfalls nicht an diesem Tag.
    Sie war von Kopf bis Fuß in ein beigefarbenes Ausgehkostüm aus Leinen gekleidet, das so hoch zugeknöpft war, das man nur den Stehkragen ihrer weißen Bluse hervorlugen sah. Die ausladenden Keulenärmel und das Schößchen ihrer Jacke übertrieben die Breite ihrer Schultern und Hüften unverhältnismäßig. Ein Strohhut mit zahlreichen grünen Bändern und cremefarbenen Federn verwehrte Harry den Anblick der roten Sonnenreflexe auf ihrem Haar. Die breite Krempe überschattete ihre Augen, und er musste sich bücken, wenn er Miss Dove ins Gesicht sehen wollte.
    Dennoch tröstete er sich mit dem, was er erblickte, während sie an den Obst- und Gemüseständen auf dem Covent Garden Market vorbei schlenderten - die zarte Haut ihrer Ohren und Wangen, den anmutigen Schwung ihrer Nase und die hübschen goldbraunen Sommersprossen. Wie viele Sommersprossen sie wohl hatte, die er jetzt nicht sehen konnte? Er fragte sich, wie lange es dauern würde, jede einzelne davon zu küssen.
    Immer, wenn er anfing, sich so etwas auszumalen, gab er sich alle Mühe, diese Gedanken in eine unverfänglichere Richtung zu lenken. Das war aber, wie er schon am vergangenen Tag befürchtet hatte, gar nicht so einfach. Ständig dachte er an ihren Anblick auf der Leiter, die Wölbung ihrer Brüste, den Schwung ihrer Hüften. Er stellte sich lange, schlanke Beine und sinnliche, heiße Küsse vor. Mit anderen Worten — Pandoras Gaben ließen sich einfach nicht wieder in die Büchse sperren.
    Er fand, dass ein wenig Unterhaltung nicht schaden konnte. „Miss Dove, ich verstehe allmählich, wie Sie so viele Dinge gelernt haben", sagte er, als sie jeweils an einer Seite eines langen Standes mit Körben voller erster Sommerfrüchte entlanggingen. „Sie können sehr gut zuhören, und die Leute teilen sich Ihnen gern mit."
    Er wurde mit einem Lächeln belohnt. „Vielen Dank. Natürlich wäre alles einfacher, wenn ich den Leuten verraten könnte, dass ich Mrs. Bartleby bin, sie wären dann noch viel beflissener. Aber da wir ihre Identität geheim halten, muss ich mich damit zufrieden geben, nur ihre Sekretärin zu bleiben."
    „Ja, als Sie Ihre Fragen gestellt haben, ist mir aufgefallen, dass Sie sich in dieser Eigenschaft vorgestellt haben. Ich nehme an, Mrs. Bartleby braucht den Leuten keinen Honig um den Bart schmieren, im Gegensatz zu ihrer Sekretärin."
    Sie verzog das Gesicht. „Ich schmiere niemandem Honig um den Bart."
    „0 doch, das tun Sie. Jedem, dem Sie begegnen. Nun ...", fügte er trocken hinzu, „jedem außer mir."
    Zu seiner Überraschung blieb sie stehen und veranlasste ihn, dasselbe zu tun. „Es tut mir aufrichtig leid, was ich an jenem Tag von mir gegeben habe", erklärte sie und sah ihn über den Obststand hinweg an. „Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist, dass ich so taktlos mit Ihnen gesprochen habe."
    „Das sollte Ihnen auch leid tun", erwiderte er mit gespielter Strenge. „Das war eine höchst unschmeichelhafte Beschreibung meiner Person. Sie sind nur schwer zu beeindrucken, Miss Dove."
    „Bin ich das?" Sie nahm sich eine Pflaume aus dem Korb vor ihr. „Warum sollte Sie das kümmern?

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