Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
Schnittverletzungen beigebracht worden. Die linke Ohrmuschel und die Finger der rechten Hand zeigten deutliche Spuren von Tierfraß, das Fleisch war teilweise bis auf die Knochen abgenagt worden.
Um die Leiche herum lagen verschiedene Gegenstände: ein brauner Hornkamm, ein blaues Portemonnaie mit etwas Kleingeld, das Stück eines Strumpfhalters, eine grüne Kollegmappe. Darin fand man unter anderem eine Ausgabe der Hamburger Morgenpost, mehrere Fotos, Kosmetika und einen zusammengeknüllten Damenschlüpfer.
Bis hierhin konnten die Beamten keine Besonderheiten feststellen. Es war der typische Tatort, wie er bei einem »Lustmord« mit Überwältigung des Opfers zu erwarten stand. Allgemeines Erstaunen löste hingegen etwas aus, das einen Meter rechts neben der Leiche in Höhe des Kniegelenks gefunden wurde. Es war nicht zu übersehen gewesen. Die Ermittler waren schon häufiger auf so etwas gestoßen, jeder von ihnen – allerdings niemals an einem »Tatort«. Es wurde »asserviert«, in eine Plastiktüte gegeben.
In der Zwischenzeit war eine Mordkommission gebildet worden. Sechs Beamte der zuständigen Fachdienststelle und neun Ermittler aus anderen Kommissariaten würden nun so lange zusammenarbeiten, bis der Mörder überführt war – oder die Erfolgsaussichten gegen Null tendierten. Dann wäre ein derartiger personeller und materieller Aufwand nicht mehr zu rechtfertigen.
Ein wesentlicher Schritt war schnell getan, das Opfer konnte mühelos identifiziert werden. Am Tatort hatte man auch eine Impfbescheinigung gefunden. Sie gehörte Renate Göbel. Ihre Mutter, sie lebte in Hannover, war bereits informiert und nach Münster gebracht worden. Hertha Göbel hatte auch mitgeteilt, dass ihre Tochter im Erziehungsheim »Birkenhof« nahe Hannover untergebracht gewesen sei. Dort galt sie seit dem 29. Dezember 1954 als »abgängig«.
Vier Beamte wurden damit beauftragt, mehr über das Opfer herauszufinden. Denn die Aufklärung dieses Verbrechens schien mit der Beantwortung bestimmter Fragen eng verknüpft: Wo hatte Renate sich in den vergangenen sechs Wochen aufgehalten? Zu wem hatte sie in den letzten Tagen Kontakt gehabt? Wie war sie von Hannover nach Walstedde gekommen? Wen hatte sie hier besuchen wollen? Hatte sie hier gewohnt? Oder vielleicht in einem Nachbarort? Von wem war sie letztmals gesehen worden? Und wo? Vor allem aber: Wer war ihr letzter Begleiter gewesen? Das musste nicht ihr Mörder sein, aber in jedem Fall war er (oder sie) ein »wichtiger Zeuge«. Die örtliche Presse wurde informiert, man erhoffte sich Hinweise aus der Bevölkerung.
Am nächsten Tag wurde obduziert. An der rechten Halsseite klafften drei tiefe Stichwunden, zwei davon »für den Finger durchdringlich bis auf den Kehlkopf«. Rachen und große Blutgefäße waren eröffnet. Die Stichverletzungen verliefen »schräg von oben nach vorn unten« und hatten zu »ausgedehnten Bluteinatmungen in die Lunge« geführt. Renate war an ihrem eigenen Blut qualvoll erstickt.
Die übrigen Verletzungen erschienen den Ermittlern »unpassend«. Sie standen in keinem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tötungsakt. Am linken Oberschenkel verliefen »in Fortsetzung der Gesäßfalten gegen das Kreuzbein aufsteigend zwei strichförmige Schnitte bis unmittelbar an die Afteröffnung«. »Wenige Millimeter daneben« stellte der Obduzent eine »Einstichwunde« fest. Ein Messer »mit etwa 2 Zentimeter breiter Klinge und auslaufender Spitze« sollte das Tatmittel gewesen sein. Der Mörder hatte also mehr getan, als zur Tötung des Opfers notwendig gewesen wäre. Nur was der Täter damit bezweckt hatte, blieb rätselhaft. War Renate gefoltert worden? Hatte man es mit einem Sadisten zu tun? Oder mit einem Psychopathen? War der Mörder vielleicht geisteskrank? Oder hatte er einfach nur die Nerven verloren?
Bei der Eröffnung des Bauchraums fand man einen Fötus. Renate war im dritten oder vierten Monat schwanger gewesen. Dieser besonders tragische Umstand beförderte blitzartig den ehemals werdenden Vater ins Fadenkreuz der Ermittler. War er mit Renate in Streit geraten? Eine Tat im Affekt? Oder doch perfide geplant? Hatte der Täter sich des Problems entledigen wollen – und dabei einen Sexualmord vorgetäuscht?
Gegen die Hypothese »inszenierter Lustmord« sprach indes der »Tatortbefund«: Der Täter hatte das Opfer auf der Lichtung getötet, der Leichnam war also nicht dorthin transportiert worden. Zudem musste Renate Göbel sich heftig gewehrt haben.
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