Ich musste sie kaputtmachen: Anatomie eines Jahrhundert-Mörders (German Edition)
zwischenmenschliche Kontakte. Nur seine älteren Geschwister Friedhelm und Elisabeth, beide inzwischen verheiratet, besuchte er hin und wieder – allerdings so gut wie nie aus eigenem Antrieb. Meist saß er bei derlei Gelegenheiten friedlich und nahezu teilnahmslos vor dem Fernseher, schaute sich Musiksendungen an. Selten versäumte er es, seinen Nichten und Neffen Schokolade mitzubringen.
Auch im Ledigenwohnheim fand er zunächst keinen Anschluss, er blieb ein belächelter Sonderling, der oft gedankenverloren vor der Tür auf der Straße stand. Niemand kümmerte es, was in ihm vorging.
Nach Schichtende zog es ihn häufig ins Kino. Sein Zimmer stopfte er voll mit elektrischen Geräten, für die er besonderes Interesse entwickelt hatte. Nach und nach kaufte er vier Fernseher, drei Radios, drei Tonbandgeräte mit Verstärkern, diverse Küchen-Elektrogeräte, einen Plattenspieler, einen Kassettenrekorder und stapelweise Musikkassetten. Am liebsten hörte er Schlager und Heimatlieder.
Sein Tagesablauf war weitestgehend stereotyp: malochen, das Zimmer aufräumen oder putzen, einkaufen, kochen, essen, fernsehen, schlafen. Er rauchte mäßig, trank kaum Alkohol. Es schmeckte ihm einfach nicht. Den überwiegenden Teil seiner Freizeit verbrachte er allerdings mit längeren Streifzügen und Spaziergängen durch Wälder und Felder in der Umgebung Duisburgs oder anderswo. Er wollte sich nicht an der Natur erfreuen oder dort entspannen, er suchte nach etwas – ohne Unterlass, fieberhaft.
Das »komische Gefühl« überkam ihn in unregelmäßigen Abständen. Tage und Wochen konnten vergehen, ohne dass sich etwas regte. Dann aber traf es ihn wie ein Blitz aus heiterem Himmel. Es gab zunächst keinen äußeren Anlass, und es gelang ihm nicht, die körperlichen Symptome zu ignorieren. Auch die sich hieran entzündenden Phantasien konnte er nicht zurückweisen. Es war zu stark, und er war zu schwach.
Wenn ihn die Puppen nicht mehr reizten oder die zunehmend verblassenden Erinnerungen an reale Schandtaten ihm nicht die gewünschte Inspiration und Stimulation verschafften, zog er los. Er fuhr mit Bus und Bahn kreuz und quer durch Duisburg, gerade so wie es ihm in den Sinn kam. Mal verschwand er im »Heltorfer Forst«, mal stapfte er durch den Stadtwald, er umrundete den Remberger See, oder er versuchte im Revierpark »Mattlerbusch« ein Opfer aufzustöbern. Nicht selten wich er auch in weiter entfernte Regionen des Ruhrgebiets aus, dann legte er bis zu 100 Kilometer pro Tag zurück. Er tat dies, weil ihm dort Anonymität garantiert wurde.
Schon auf dem Weg in eines seiner Reviere ließ er sich von einem Gefühl gefangen nehmen, das durchaus zwiespältige Empfindungen in ihm auslöste: Jagdfieber. Es wollte ihm nicht gelingen, sich mit dieser Gefühlsmixtur anzufreunden: Die angenehme Erfolgserwartung konkurrierte heftig mit der unangenehmen Misserfolgserfahrung. Die Befürchtung, am Ende wieder mit leeren Händen dazustehen, trübte seine Vorfreude. Denn genau das hatte er in den Monaten und Jahren zuvor häufig erleben müssen. So manche Frau hatte er ins Visier genommen, sie verfolgt, aber es war immer schief gegangen. Die Anwesenheit von Spaziergängern oder Radfahrern, die stets zum ungünstigsten Zeitpunkt aufgetaucht waren, hatten ihn unschlüssig werden lassen, stark verunsichert war er von seinem teuflischen Vorhaben zurückgetreten. Mitunter hatte er auch einfach zu lange gezögert, die Chance vertan. Oder er hatte sich von der äußeren Erscheinung eines potentiellen Opfers abschrecken lassen – er wagte sich nämlich nur an Frauen heran, die ihm körperlich unterlegen waren. Er war sehr mißtrauisch, vorsichtig, ängstlich – und deswegen so erfolglos.
Er war früher aufgestanden als üblich. Er hatte sich etwas vorgenommen. Der 24. April 1962 sollte ein besonderer, ein unvergesslicher Tag werden. Einen triftigen Grund hatte er auch: Das »komische Gefühl« plagte ihn schon seit den späten Abendstunden am Tag zuvor. Er hatte deswegen bereits zweimal onaniert, aber es war dadurch nicht wesentlich besser geworden. Immer noch kribbelte es auf der Brust, quälte ihn eine innere Unruhe. Er musste raus, er verlangte nach einem Opfer. Ob es eine Frau, einen Teenager oder ein Kind treffen würde, war ihm prinzipiell egal.
Er brauchte an diesem Dienstag nicht zur Arbeit, er hatte eine Freischicht. Das sonnige Frühlingswetter nährte die Hoffnung, er könnte erfolgreich sein, es endlich vollbringen. Um 10.30 Uhr
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