Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich nannte ihn Krawatte

Ich nannte ihn Krawatte

Titel: Ich nannte ihn Krawatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Milena Michiko Flasar
Vom Netzwerk:
nach mir ausstreckte. Warmes Blut. Es gibt mich noch. Liebe Yukiko. Ich schrieb es in meine Armbeuge. Ich möchte dir sagen: Ich mag dich.

72
    Was blieb, war eine Lücke in der Siedlung. Das Haus ihrer Eltern wurde wenig später geräumt. Vom Fenster meines Zimmers aus konnte ich beobachten, wie man mit Masken um Nase und Mund allerlei Unrat, Gerümpel und Abfall nach draußen schaffte. Kaputte Fahrräder, zuhauf. Zerbeulte Töpfe. Eine Wagenladung voller Zeitschriften und Magazine. Radios. Polster. Matratzen. Von Mäusen zerfressen. Drei Kisten Lampenschirme. Und Nägel. Und Schrauben. Es hatte sich herausgestellt, dass Miyajimas seit langem vom Müll der Nachbarn gelebt hatten. Eine Schande, sagte Mutter. Sie stand dicht hinter mir. Was die gesammelt haben! Schau, unser Wecker, da ist er doch! Sie sagte: Unser Wecker. Als ob er immer noch uns gehörte. Als ob er für immer der unsere wäre. Sie sagte es nebenbei. In Gedanken schon wieder woanders. Ich begriff, dass es keinen Sinn hatte, sie daran zu erinnern, dass sie den Wecker vor gut einem Jahr weggeworfen hatte, weil ihr sein Läutenzu aufdringlich gewesen war. Soll jemand anderer von ihm geweckt werden! Mit diesen Worten hatte sie ihn in den Mülleimer geworfen.
    Eine letzte Fuhre Plastik. Ich ging hinaus. Leere Konservenbüchsen. Batterien. Ein zersprungener Spiegel, in dem mein Gesicht eine Fratze war, hässlich verzerrt. Ich griff in einen der Säcke, die man vor dem Eingang abgestellt hatte, und zog einen Stein heraus. In ihm eingeschlossen ein Insekt. Ich steckte ihn in die Hosentasche und tastete darin seine Oberfläche ab. Sie war kühl und glatt, ein Handschmeichler. Hinter seiner Maske stöhnte einer der Arbeiter: Für heute ist es genug.

73
    Das Haus wurde abgerissen. Seine Substanz, hieß es, sei wertlos und es lohne sich nicht, sie zu erhalten. Auf dem Weg in die Schule sah ich, wie man rundherum die Straße absperrte, und auf dem Weg nach Hause sah ich, wie ein Bagger die letzte Wand umkippte. Unter meinen Füßen bebte der Boden. Tage darauf war dort, wo ich einst gestanden und geläutet hatte, eine planierte Fläche, und wieder Tage darauf hatte man einen Neubau errichtet. Eine Familie zog ein: Vater, Mutter und Kind. Gute Leute, sagte man, ein bisschen zu schick vielleicht. Wie sieht das aus? Unser alter Nissan neben ihrem neuen. Von Miyajimas war kaum mehr die Rede. Nach allem, was man wusste, und man wusste nicht viel, wollte nicht zu viel wissen, waren sie hochverschuldet in eines der unteren Stadtviertel gezogen, und es hätte niemanden gewundert, sie in einem der Parks in S., unter einer blauen Zeltplane zu sichten. Ja, man hätte das sogar gerne sagen können, dass man sie dort gesehenhätte. Es wäre ein wohltuender Grusel gewesen. Sagen zu können: Die sind ganz, ganz unten. Und weil man sich diesen Grusel, wenigstens einen Hauch davon, nicht entgehen lassen wollte, sagte man, ohne es wirklich zu wissen: Keine Frage. Auch wenn sie es jetzt noch nicht sind. Irgendwann werden sie ganz, ganz unten sein. Erst als Fujitas, einen Block weiter, mit Spielsucht und Eheproblemen aufwarteten, hörte man auf, über Miyajimas zu sprechen.
    Und weiter?
    Nichts weiter. Ich meine, es war eben so, wie es war, und ich hatte mich damit abzufinden. Ich wurde siebzehn. Dann achtzehn. Der Druck wuchs. Ich würde ihm standhalten. Die Zähne zusammenbeißen und denken: Das ist Erwachsenwerden. Die Dinge, so wie sie sind, zu überstehen und sie selbst dann, wenn man sich nicht von ihnen erholt, für überstanden zu halten. Zu vergessen. Auch das. Wieder und wieder zu vergessen. Wenn Kumamoto nicht gewesen wäre, hätte ich es geschafft. Er aber hatte Yukikos Augen. Denselben Blick: Ich löse mich auf.
    Es ist —
    ich sprach den Satz für ihn zu Ende
    â€” eine Entscheidung.
    Nein. Er schüttelte den Kopf. Zumindest keine, die du aus einer Wahl heraus getroffen hast. Ich sehe das jetzt. In diesem Café. Er zeigte nach rechts und nach links. Wir sind unfrei, wir alle. Bloß dass uns das nicht aus der Verantwortung nimmt. Dass wir trotz unserer Unfreiheit beständig Entscheidungen treffen, für deren Folgen wir haften müssen. Und dass wir daher mit jeder Entscheidung, die wir treffen, noch unfreier werden.
    Der Gedanke, obwohl er schwer war, machte es uns leicht, uns aus den Sesseln und hinaus auf die Straße zu bewegen. Der Regen hatte nachgelassen

Weitere Kostenlose Bücher