Ich nehme alles zurück und behaupte das Gegen
hervorgerufen durch die Durchschlagskraft meiner desaströsen Denkvorgänge.
Immer genau dann, wenn ich glaube, dass ich nicht in einer Sackgasse, sondern einem dreihundert Meter tiefen Brunnenschacht festsitze, wenn ich die Katastrophe schon mit hundertachtzig Sachen um die Ecke biegen sehe, wenn die Reifen quietschen und die Gleise glühen und irgendjemand verzweifelt versucht, die Notbremse zu ziehen, dann macht es nur leise Plopp, und ich gerate in ein Raum-Zeit-Kontinuum, schwebe über mich selbst und meine gesammelten Katastrophen hinweg, lande sanft und elfengleich ein paar Meter neben dem ursprünglichen Problem und denke: Aha. War ja alles gar nicht so wild. Und das alles nur, weil sich die Dramen bei mir so heimisch fühlen, einrichten, festsetzen, stapeln, gegenseitig auf die Füße treten, Platzangst kriegen, lauter werden, Atemnot und Nervenzusammenbrüche erleiden und schließlich irgendwann panisch ausbrechen und das Weite suchen. Ich bin ein soziales Dramenauffangbecken. Ich bin die vorgelagerte Insel vor dem Festland. Hier flüchten Probleme hin, wenn sie woanders keine Stätte finden. Bei mir hätten es Maria und Josef leicht gehabt, hier ist für jede noch so kleine Mücke Platz! Und Probleme hatten die. Hochschwanger und obdachlos, genau meine Kragenweite.
Ich, das fleischgewordene Lampedusa, habe ein schwerwiegendes Problem. Denn ich habe vor allem DANN ein Problem, wenn ich eigentlich GAR KEIN Problem habe. Und wenn dann doch mal eines vorbeikommt, blase ich so viel Luft hinein, dass es den Raum ausfüllt. Und wenn das nicht genügt, lade ich alle seine Freunde ein, und wir feiern eine riesige Party bis zum Morgengrauen, aber keiner von denen bleibt zum Aufräumen, das mache ich dann ganz alleine, ich und mein galaktischer Kater.
Kurzum: Ich liebe Konrad, die ganze Zeit schon. Ich war nur zu blöd, es zu merken. Er ist der großzügigste, kleinkarierteste, nachsichtigste, vorausschauendste, warmherzigste, kaltschnäuzigste, langsamste, kurzweiligste und einfach phänomenal beste Freund, den man sich wünschen kann. Er ist der Pol, der meine wild zitternde Nadel ausrichtet. Die Himmelsrichtung, nach der ich meinen Gebetsteppich ausrolle. Der kitschigste, romantischste und am häufigsten besungene kleine italienische Fischerhafen, in dem ich meinen Anker werfe. Er erzählt mir von Ferien auf dem Süderhof, wenn ich auf stürmischer See über die Planken schlittere. Er zieht den Stecker aus der Dose, wenn ich mit laufendem Föhn in der Hand über der Badewanne seiltanze. Er macht mich zu etwas Ganzem, etwas Vollständigem, er füllt die Lücken, in die ich so lange alles Mögliche reingestopft habe, um den Phantomschmerz zu lindern. Und nicht zuletzt liebt er mich, von der Locke bis zur Socke, von links nach rechts, von oben nach unten, vorwärts, rückwärts, seitwärts und diagonal, mit all meinen seltsamen, kaputten, schwierigen, anstrengenden Wesensarten. Er hat mich in die Mitte der Welt gesetzt. Und das, finde ich, ist eine wirklich kolossale Leistung.
Aber hier, wie überhaupt, kommt es anders, als man glaubt
Montag, 13 . Juni, um 11 : 14 Uhr
Allen Liebesschwüren zum Trotz: Gestern war es so weit. Wir fuhren zu Konrads Eltern in den Taunus. Ich hatte vor Angst in der Nacht kaum geschlafen und sah am Morgen dementsprechend scheiße aus. Konrad kam mit einem dampfenden Pott Kaffee ans Bett.
» Geht’s dir nicht gut?«
Ich witterte Morgenluft. » Nein«, sagte ich wahrheitsgemäß. » Ich glaube, ich habe Migräne.«
» Aber du hast doch nie Migräne«, stellte Konrad fachmännisch fest. Normalerweise erinnerte er sich an erstaunlich wenig Details aus meinem Leben. Er kannte nicht meine Schuhgröße, vergaß ausnahmslos immer, fettarme Milch zu kaufen, und konnte sich ums Verrecken nicht merken, dass ich nur hartgekochte Eier mochte, aber hier und heute ließ er den großen Juli-Kenner raushängen.
» Dann krieg ich vielleicht eine Grippe?«, versuchte ich es weiter und stöhnte mitleiderregend, als ich mich mit scheinbar letzter Kraft auf die Seite rollte.
» Hast du denn Fieber?«, fragte Konrad und legte mir die Hand auf die Stirn. » Nein, deine Stirn ist nur ein bisschen feucht«, diagnostizierte er.
Angstschweiß, dachte ich und seufzte kränklich.
Konrad stand auf und verließ das Schlafzimmer. Eine halbe Minute später kam er wieder zurück, setzte sich auf die Bettkante und befahl: » Hose runter!«
Erschrocken drehte ich mich zu ihm um. » Was?«
» Wir messen jetzt
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