Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
wurde der Angstkloß in meinem Hals. Ich war müde. Mir war schlecht, ich hatte Hunger und Durst. Aber vor allem hatte ich Angst. In meinem Kopf hatte ich alle möglichen Spielideen erschöpft, um mein Unglück zu vergessen. Je näher wir Wadi La’a kamen, desto ungewisser wurde mein Schicksal. Und mein letzter Hoffungsschimmer, noch zu entkommen, war vollkommen erloschen.
Khardji hatte sich nicht verändert. Das Ende der Welt. Kaum angekommen, wie gerädert von den vielen Stößen, erkannte ich sofort die fünf Steinhäuser, den kleinen Bach, der durch das Dorf fließt, die Bienen, die Nektar von den Blüten sammeln, die Bäume, so weit das Auge reicht. Und die Kinder der Umgebung, die an der Quelle mit ihren kleinen gelben Kanistern Wasser holen. Auf der Türschwelle eines der Häuser erwartete uns eine Dame. Von Anfang an spürte ich, wie sie mich musterte. Sie gab mir keinen Kuss. Nicht einmal ein Küsschen, nicht mal ein Streicheln. Sie war seine Mutter. Meine neue Schwiegermutter. Sie war alt und hässlich. Ihre Haut war runzlig wie die einer alten Eidechse. Ihr fehlten die beiden Vorderzähne. Alle anderen waren von Fäulnis verdorben und von Tabak geschwärzt. Ein schwarzgraues Tuch bedeckte ihr Haar. Mit einer Handbewegung winkte sie mich herein. Innen war das Haus einfach und kaum möbliert. Es besaß vier Schlafzimmer, ein Wohnzimmer und eine winzige Küche. Aufs Klo ging man im Freien, hinter die Büsche.
Ohne mich zu zieren, verschlang ich den Reis und das Fleisch, das seine Schwestern zubereitet hatten. Ich starb beinahe vor Hunger. Ich hatte seit unserer Abfahrt aus Sanaa nichts gegessen. Nach der Mahlzeit versammelten sich die Großen zu einer
kath-S
itzung. Schon wieder! Gäste aus der Nachbarschaft schlossen sich der Runde an. In einer Ecke zusammengekauert, schaute ich ihnen stumm zu. Zu meiner großen Überraschung schien sich niemand über mein niedriges Alter zu wundern. Später erfuhr ich, dass eine Heirat mit kleinen Mädchen in der Provinz gang und gäbe war. Für sie stellte ich also keine besondere Ausnahme dar. »Wenn du ein neunjähriges Mädchen heiratest, ist dir eine glückliche Ehe sicher«, besagt sogar ein altes Stammessprichwort.
Zwischen den Großen wurde die Unterhaltung immer lebhafter.
»Das Leben in Sanaa ist sehr teuer geworden«, klagte meine Schwägerin.
»Ab morgen zeige ich der Kleinen, was sie hier für Aufgaben hat«, fügte meine Schwiegermutter hinzu, ohne mich direkt beim Namen zu nennen. »Übrigens hoffe ich, dass sie Geld mitgebracht hat.«
»Die Kinderspiele sind vorbei. Wir zeigen ihr, was eine richtige Frau ist!«
Als mir nach Aufbruch der Gäste bei Sonnenuntergang mein Zimmer zugewiesen wurde, erinnere ich mich, wie erleichtert ich war. Endlich konnte ich diese braune Tunika abstreifen, die ich seit dem Vortag trug und die inzwischen ganz schön stank. Sobald sich die Tür hinter mir schloss, stieß ich einen lauten Seufzer aus und zog mir sofort ein kurzes rotes Baumwollhemd an, das ich aus Sanaa mitgebracht hatte. Es roch nach meinem alten Zuhause, einem muffigen Geruch mit leichtem
Oud
-Duft. Ein vertrauter Geruch, der beruhigend wirkte. Auf dem Boden lag eine lange Matte. Mein Bett. Daneben eine alte Öllampe als Beleuchtung, deren Flammenschein an der Wand flackerte. Ich kam nicht einmal dazu, sie zu löschen, so schnell schlief ich ein. Endlich!
Ich wäre am liebsten nie wieder aufgewacht. Als plötzlich polternd die Tür aufging, schreckte ich auf und wunderte mich über den starken Wind in dieser Nacht. Kaum hatte ich die Augen geöffnet, spürte ich, wie sich ein verschwitzter, haariger Körper an mich drückte. Jemand hatte die Lampe ausgeblasen, und nun war es stockdunkel. Ich zitterte. Das war er, das Monster! Ich erkannte ihn sofort an dem aufdringlichen Zigaretten- und
kath-
Geruch. Er stank! Er roch bestialisch!
Ohne ein Wort zu sagen, begann er, sich an mir zu reiben.
»Ich flehe Sie an, lassen Sie mich in Ruhe!«, keuchte ich bibbernd.
»Du bist meine Frau! Von heute an entscheide ich. Wir müssen in einem Bett schlafen.«
Mit einem Satz war ich aufgestanden und wollte fliehen. Aber wohin? Ganz egal! Ich musste dieser Falle entrinnen. Er stand ebenfalls auf. Im Dunkeln bemerkte ich einen Lichtspalt an der angelehnten Tür. Wohl der Glanz der Sterne und des Mondes. Ohne eine Sekunde zu zögern, entwischte ich in den Hof. Doch das Monster rannte mir hinterher.
»Hilfe! Hilfe!«, brüllte ich schluchzend.
Meine Stimme hallte durch
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