Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
die Nacht. Doch es war, als würde ich ins Leere rufen. Ich rannte atemlos hin und her. Ich stürzte ins erste Zimmer, flitzte jedoch sogleich wieder hinaus, als er eintrat. Ich rannte weiter, ohne mich umzudrehen. Ich stolperte über etwas, vielleicht eine Glasscherbe, richtete mich wieder auf und wollte weiterrennen. Zwei Arme bremsten meinen Lauf, umklammerten mich mit ganzer Kraft und schleppten mich zurück ins Schlafzimmer, wo sie mich auf die Matte niederdrückten. Ich lag wie festgenagelt auf dem Boden, ich war wie gelähmt.
»Amma! Amma!«,
flehte ich, in der vagen Hoffnung auf einen Anflug weiblicher Solidarität.
Keine Antwort. Ich rief erneut:
»Hilfe! Hilfe!«
Er zog seine weiße Tunika aus. Ich rollte mich schutzsuchend zusammen. Doch er begann, an meinem Nachthemd zu zerren, und verlangte, dass ich mich auszog. Dann ließ das Monster seine rauhen Hände über meinen Körper gleiten und presste seine Lippen auf meine. Er stank widerlich. Eine Mischung aus Tabak und Zwiebeln.
»Gehen Sie! Oder ich sage es meinem Vater!«, stöhnte ich und versuchte, mich erneut loszureißen.
»Du kannst deinem Vater erzählen, was du willst. Er hat einen Heiratsvertrag unterschrieben. Er hat mir seine Einwilligung gegeben, dass ich dich heirate.«
»Das dürfen Sie nicht!«
»Nojoud, du bist meine Frau!«
»Hilfe! Hilfe!«
Dann fing er an, höhnisch zu lachen:
»Hör doch: Du bist meine Frau. Und jetzt musst du tun, was ich will! Kapiert?«
Ich fühlte mich plötzlich wie von einem Orkan erfasst, von einem Wirbel in den nächsten gerissen. Der Blitz brach über mich herein, und mir fehlte die Kraft, mich zu wehren. Ein Donnergrollen. Noch eines und noch eines. Der Himmel fiel mir auf den Kopf. Dann erfüllte ein Brennen das Innerste meines Körpers. Ein Brennen, das ich nie zuvor empfunden hatte. Sosehr ich auch schrie, niemand kam mir zu Hilfe. Es tat weh, sehr weh, und ich war ganz allein mit dem Schmerz.
»Aua!«, stieß ich in einem letzten Seufzer aus.
Ich glaube, in diesem Augenblick wurde ich halb ohnmächtig.
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5. Shada
9. April 2008
D as Handy ans Ohr gedrückt, geht Shada in der Halle des Gerichts auf und ab.
»Wir müssen alles unternehmen, um Nojoud aus den Klauen ihres Mannes zu befreien! Wir müssen die Presse, die Frauenverbände einschalten …«, höre ich sie rufen. Dann legt sie auf und kniet sich vor mich, um mit mir auf Augenhöhe zu sein.
»Hab keine Angst, Nojoud, ich helfe dir, dich scheiden zu lassen!«
Noch nie hat mir jemand so viel Beachtung geschenkt.
Shada Nasser
ist Rechtsanwältin. Es heißt, sie sei eine sehr wichtige Anwältin, eine der bedeutendsten im Jemen, die sich für die Rechte der Frauen einsetzt! Mit aufgerissenen Augen sehe ich sie bewundernd an. Schön ist sie, Shada. Und so sanft.Ihre Stimme ist etwas schrill, und sie redet schnell, wahrscheinlich, weil sie ständig in Eile ist. Ihr Parfum duftet nach Jasminblüten. Schon beim ersten Anblick mochte ich sie sehr. Im Gegensatz zu den Frauen meiner Familie trägt sie nie einen Schleier. Es ist selten im Jemen, dass eine Frau keinen
niqab
trägt. Shada hat einen langen schwarzen Seidenmantel an. Und für den Kopf begnügt sie sich mit einem farbigen Tuch. Ihr Teint strahlt, und das Rot ihrer Lippen verleiht ihr das Aussehen einer eleganten Dame, wie in einem Film. Übrigens wirkt sie mit ihrer Sonnenbrille tatsächlich wie ein Filmstar. Welch ein Gegensatz zu all den verschleierten Frauen, denen man auf der Straße begegnet!
»Mit mir an deiner Seite hast du nichts zu befürchten«, fügt sie hinzu und streicht mir beruhigend über das Gesicht.
Heute Morgen war sie gleich, als sie mich erkannte, auf mich zugekommen. Im Gericht hatte man ihr nach dem Wochenende von mir erzählt. Meine Geschichte wühlte sie auf. Sie sagte sofort alle weiteren Termine ab. Und der Richter musste ihr versprechen, sie zu benachrichtigen, sobald ich zurückkommen würde. Sie wollte mich um jeden Preis treffen.
»Entschuldigung, bist du das Mädchen, das seine Scheidung einreichen will?«, fragte sie mich zunächst, als sie auf dem Hof, der zum Gericht führt, auf mich zugekommen war.
»Ja, genau«, antwortete ich.
»Mein Gott! Komm, das müssen wir unbedingt besprechen.«
Es ist einiges passiert in den letzten Tagen. Mir dreht sich noch alles im Kopf. Das ganze Wochenende über – im Jemen sind das der Donnerstag und der Freitag – behandelten mich Richter Abdel Wahed und seine Frau mit einer Freundlichkeit, die
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