Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Boss, einem Viertel weit von uns entfernt, mit seinen zwei Frauen und seinen sieben Kindern. Er hat sich zwar nicht gegen meine Heirat ausgesprochen, aber er verkörpert so etwas wie Ordnung und schlägt wenigstens nicht seine Töchter. Shoyi ist nicht sehr gesprächig, was mir gelegen kommt. Er vermeidet es, mir zu viele Fragen zu stellen, und lässt mich mit meinen Cousins spielen. Abends, vor dem Einschlafen, danke ich Allah, dass mir Shoyi meine Dreistigkeit nicht vorwarf und sich nicht einmal nach dem Anlass meiner Flucht erkundigte. Eigentlich, so sage ich mir, ist ihm diese Geschichte sicher genauso unangenehm wie mir.
Die folgenden vier Tage erscheinen mir lang und eintönig. Ich verbringe die meiste Zeit am Gericht und hoffe auf ein Wunder, eine unerwartete Lösung. Doch die weiteren Aussichten sind leider nicht besonders klar. Die Richter haben mir versprochen, ihr Möglichstes zu unternehmen, um meine Scheidung zu erreichen, doch sie brauchen Zeit. Schon lustig, seit ich nun täglich in diesen Hof komme, der schwarz vor Menschen ist, habe ich mich inzwischen an diese Menge gewöhnt, die mich anfangs so eingeschüchtert hatte. Ich erkenne schon von weitem am Fuße der Treppe die kleinen Tee- und Saftverkäufer. Der Junge mit der Waage hat die ganze Zeit damit zu tun, die Besucher zu wiegen, die es nicht so eilig haben. Neuerdings lächle ich ihm manchmal ermutigend zu, wenn ich ihm begegne. Jedoch wird mir bei jedem Besuch am Gericht schwer ums Herz. Wie oft werde ich noch den Weg hierher machen müssen, bis wieder ein ganz normales Mädchen aus mir wird? Abdo warnte mich, mein Fall sei außergewöhnlich. Doch was tun die Richter mit einem außergewöhnlichen Fall? Keine Ahnung. Die Antwort meine ich endlich mit Shada gefunden zu haben, der schönen Rechtsanwältin mit der Sonnenbrille.
Als sie mich heute Morgen ansprach, fiel mir ihre Ergriffenheit auf, als sie mich ansah und dann rief: »Mein Gott!« Sie warf einen Blick auf ihre Uhr und schmiss ihren sichtlich vollgepackten Terminplan um. Sogleich rief sie der Reihe nach ihre Angehörigen, Freunde und Kollegen an. »Ich muss mich um einen wichtigen, um einen sehr wichtigen Fall kümmern«, hörte ich sie mehrmals sagen.
Diese Frau scheint über eine unerschöpfliche Geduld zu verfügen! Abdel Wahed hat recht. Sie ist eine beeindruckende Rechtsanwältin. Sie muss viel Macht haben. Ihr Handy klingelt unaufhörlich. Und all diese Menschen, die ihr über den Weg laufen, grüßen sie immer sehr höflich.
»Nojoud, du bist für mich wie eine Tochter! Ich lasse dich nicht im Stich!«, flüstert sie mir ins Ohr.
So langsam fange ich an, ihr zu glauben. Diese Frau hat keinen Grund, zu lügen. Ich fühle mich wohl mit Shada. An ihrer Seite habe ich das Gefühl, in Sicherheit zu sein. Sie findet immer die richtigen Worte. Ihre melodische Stimme tröstet mich.
Sie hat es geschafft, dass ich wieder zuversichtlicher ins Leben blicke. Und wenn die Welt um mich herum untergehen sollte, weiß ich, dass sie mir beistehen wird. Bei ihr spüre ich zum ersten Mal diese mütterliche Zuneigung, die mir meine Mutter nicht geben wollte oder vielleicht nicht geben konnte, weil zu viele Sorgen auf ihr lasteten.
Eine Frage jedoch bohrt weiter in mir.
»Shada?«, wage ich sie schließlich anzusprechen.
»Ja, Nojoud?«
»Darf ich Sie etwas fragen?«
»Natürlich!«
»Können Sie mir versprechen, dass ich nie wieder zu meinem Mann zurückmuss?«
»
Inch’Allah
, Nojoud. Ich werde alles unternehmen, um zu verhindern, dass er dir noch einmal etwas zuleide tut. Alles wird gut. Alles wird gut. Aber …«
»Aber was?«
»Du musst stark sein, denn es kann noch dauern.«
»Wie lange?«
»Denk jetzt nicht daran. Sag dir, dass das Schlimmste überstanden ist. Nämlich, dass du die Kraft für die Flucht aufgebracht hast, das war eine Heldentat von dir!«
Als ich seufze, huscht Shada ein Lächeln über die Lippen, und sie tätschelt mir zärtlich den Kopf.
»Darf ich dir auch eine Frage stellen?«, fährt sie fort.
»Ja.«
»Wo hast du den Mut hergenommen, bis zum Gericht zu fliehen?«
»Den Mut zu fliehen? Ich konnte seine Boshaftigkeit nicht mehr ertragen. Ich konnte einfach nicht mehr …«
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6. Die Flucht
I n Khardji war das Leben unmöglich geworden. Hin- und hergerissen zwischen meinem Schmerz und meinem schlechten Gewissen, litt ich im Stillen. Mit wem hätte ich über diese ekligen Dinge, die das Monster mir Tag um Tag, Nacht um Nacht zumutete, schon
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