Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Antwort.
Als der Motor zu knattern begann und der Fahrer auf das Gaspedal trat, konnte ich mir ein paar weitere Tränen nicht verkneifen. Mein Herz klopfte mir bis an den Hals. Das Gesicht ans Fenster gepresst, ließ ich
Omma
nicht aus den Augen, bis von ihr nur noch ein winzig kleiner Punkt übrig blieb, der im Unendlichen verschwand.
Ich gab während der ganzen Fahrt kein Wort von mir. Gedankenverloren hatte ich nur diese eine Idee im Kopf: ein Mittel zu finden, um wieder nach Hause zu können. Reißaus nehmen! Doch je weiter sich das Auto von Sanaa entfernte, desto klarer wurde mir, dass ein solcher Versuch aussichtslos wäre. Immer wieder war ich drauf und dran, mir den
niqab
herunterzureißen, durch den ich kaum Luft bekam. Ich fühlte mich klein, zu klein für all das. Für diesen
niqab
, für diese lange Reise, weit entfernt von meinen Eltern, für dieses neue Leben an der Seite eines Mannes, der mich anwiderte und den ich nicht kannte. Der Geländewagen bremste abrupt.
»Kofferraum aufmachen!«
Die Stimme des Soldaten schreckte mich auf. Erschöpft vom vielen Weinen, war ich schließlich eingenickt. Doch dann fiel mir sogleich wieder ein, dass an der Straße nach Norden zahlreiche Kontrollposten aufgestellt waren und wir uns erst am ersten befanden. Sie hingen anscheinend mit dem Krieg zusammen, der im Norden zwischen der Armee und den
Al-Huthi
-Rebellen wütete. Mein Vater sagt, die Huthis seien Schiiten, während die meisten Jemeniten Sunniten sind. Was der Unterschied ist? Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich weiß nur, dass ich Muslimin bin und täglich meine fünf Gebete spreche.
Nach einem kurzen Blick ins Innere des Wagens gab uns der Soldat das Zeichen zur Weiterfahrt. Hätte ich doch nur die Gelegenheit genutzt, ihn um Hilfe zu bitten und mich aus dieser Lage zu retten! Hatte er denn mit seiner grünen Uniform und der geschulterten Waffe nicht die Aufgabe, für Ordnung und Sicherheit zu sorgen? Ich hätte ihm doch sagen können, dass ich Sanaa nicht verlassen wollte, dass ich befürchtete, mich auf dem Dorf zu langweilen, und dort niemanden mehr kannte.
An die Hauptstadt Sanaa hatte ich mich schließlich gewöhnt. Ich mochte die Baustellen, die breiten Straßen, die Werbeplakate für Handys und Orangenlimonade, die am Gaumen prickelt. Die Luftverschmutzung und die Staus waren für mich zum Alltag geworden. Doch vor allem würde ich die Altstadt, Bab al-Yemen, das Tor des Jemen, vermissen. Bab al-Yemen, eine regelrechte Stadt in der Stadt, ein zauberhaftes Viertel, durch das ich gerne schlenderte, an Monas oder Jamilas Hand, und mich dabei fühlte wie eine Abenteurerin, die auf Forschungsreise geht. Eine Welt für sich, mit Lehmhäusern und weißen Arabesken als Fensterschmuck. So zart waren diese Muster, dass ich mir vorstellte, indische Architekten wären vor sehr langer Zeit dort vorbeigekommen, lange vor meiner Geburt. Dieses Viertel war so edel, dass ich mir die Geschichte eines Königs und einer Königin erdacht hatte, die dort glückliche Tage verlebt haben mussten. Vielleicht gehörte ihnen sogar die gesamte Altstadt?
Sobald man Bab al-Yemen betrat, ertönten von überallher Geräusche: Die Rufe der Händler und barfüßigen Bettler vermischten sich mit dem Gedudel alter Kassettenrekorder. In einer Seitengasse konnte es vorkommen, dass ein junger Schuhputzer einen am Fuß packte und seine Dienste anbot. Dann plötzlich übertönte der Ruf zum Gebet das wirre Konzert. Mit Vergnügen streckte ich die Nase in die Luft und schnupperte den Duft von Kümmel, Zimt, Nelken, Nüssen und Rosinen, die aus den Verkaufsständen kullerten. Zuweilen stellte ich mich auf die Fußspitzen, um das Warenangebot der Stände besser zu überblicken, denn sie waren etwas zu hoch für mich. Sie drängten sich, so weit das Auge reichte, und boten in buntem Durcheinander
jambias
aus Silber, gestickte Dreieckstücher, Teppiche, süße Krapfen, Henna und Kleider für kleine Mädchen in meinem Alter.
In Bab al-Yemen konnte es auch geschehen, dass einem Frauen mit langen, buntgeblümten Schleiern begegneten, die man
sitara
–
Vorhänge
– nennt. Ich sagte mit Vorliebe »die Altstadtdamen« zu ihnen, denn ihre Gewänder in fröhlichen Farben unterschieden sich stark von den schwarzen Schleiern, die Frauen für gewöhnlich auf der Straße trugen, und schienen einem anderen Zeitalter entsprungen.
Eines Nachmittags, als ich meine Tante zum Einkaufen begleitete, verirrte ich mich schließlich im dichten
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