Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
ich nicht erwartet hätte. Sie verwöhnten mich mit Spielsachen, leckeren Gerichten, einer heißen Dusche und sogar einem Gutenachtkuss vor dem Einschlafen. Wie ihre eigenen Kinder! Im Haus durfte ich sogar den Schleier, den verheiratete Frauen tragen, abnehmen. Vor meiner Schwiegermutter musste ich ihn immer zurechtziehen, sobald er etwas verrutschte. Was für ein Glück, keine Stockhiebe fürchten zu müssen, nicht vor Angst zu zittern, wenn man schlafen geht, nicht aufzuschrecken, wenn nur eine Tür knallt! Doch trotz all dieser Zuwendung waren meine Nächte noch sehr unruhig. Jedes Mal, wenn ich einschlafe, habe ich den Eindruck, dass mir der Wirbelsturm auflauert und die Tür, wenn ich die Augen zu lange schließe, wieder aufgehen kann. Und dass das Monster zurückkommt … Wie grässlich! Richter Abdel Wahed sagt aber, das sei normal, und es würde noch lange dauern, bis ich all dieses Leid vergessen habe.
Als er mich am Samstagmorgen zum Gericht zurückbringt, fällt mir die Rückkehr in die Realität schwer. Um neun Uhr sitzen wir schon in seinem Büro, zusammen mit den beiden anderen Richtern, Abdo und Mohammad al-Ghazi, die mir freundlich zulächeln, als sie mich kommen sehen. Hm, aber leider quält Mohammad al-Ghazi ein neues Problem.
»Nach jemenitischem Recht ist es schwierig, wenn du gegen deinen Vater und deinen Mann eine Klage einreichen willst«, sagt er zu mir.
»Und warum?«
»Das ist ein bisschen kompliziert für ein Mädchen in deinem Alter. Es ist schwer zu erklären.«
Dann zählt er mir mehrere Hindernisse auf. Wie die meisten Kinder, die auf dem Dorf geboren werden, habe ich keine Papiere und nicht einmal eine Geburtsurkunde. Zudem bin ich zu jung, um ein Gerichtsverfahren zu eröffnen. Alles Gründe, die einem gelehrten Mann wie Mohammad al-Ghazi sehr konkret erscheinen, die mir aber kaum einleuchten. Ich muss mich jedoch damit zufriedengeben, die positive Seite der Dinge zu sehen. Wenigstens, so sage ich mir, bin ich fürsorglichen Richtern begegnet, die bereit sind, mir zu helfen. Schließlich sind sie nicht dazu gezwungen, sich um mich zu kümmern. Wie viele andere auch hätten sie mein Ansuchen ignorieren und mir raten können, nach Hause zu gehen und meine Pflichten als Ehefrau zu erfüllen. Denn es war ja tatsächlich ein Vertrag unterschrieben und einstimmig von allen Männern meiner Familie gebilligt worden. Nach jemenitischer Tradition ist er also gültig.
»Wie die Dinge stehen«, fährt Mohammad al-Ghazi an seine Kollegen gerichtet fort, »müssen wir schnell handeln. Ich schlage also vor, dass wir Nojouds Vater und ihren Mann in Untersuchungshaft nehmen. Sie sind besser im Gefängnis aufgehoben als in Freiheit, wenn wir Nojoud schützen wollen.«
Gefängnis? Was für eine harte Strafe! Würde mir mein
Aba
das verzeihen? Plötzlich überfallen mich Scham- und Schuldgefühle. Und wie beschämend für mich, als sie mich bitten, den Soldaten, der sie verhaften soll, zu begleiten, damit er auch die richtige Adresse findet! Meine Familie hat mich das ganze Wochenende nicht gesehen und nimmt sicher an, dass ich wie mein Bruder Fares für immer geflohen bin. Ich möchte mir nicht einmal das Gesicht meiner Mutter vorstellen, wenn meine kleinen Brüder und Schwestern das Brot für ihr Frühstück verlangen! Zudem erinnere ich mich, dass mein Vater kurz vor meiner Flucht krank wurde und sogar anfing, Blut zu spucken. Würde er eine Inhaftierung überleben? Ich würde mir mein ganzes Leben lang Vorwürfe machen, wenn er sterben würde.
Aber ich habe keine andere Wahl. Wenn die Netten leiden, müssen die Bösen bestraft werden, hatte mir Abdo erklärt. Schließlich steige ich also in das Auto des Soldaten. Doch als wir vor der Haustür ankommen, ist sie von innen zweimal verriegelt. Ich fühle mich seltsam erleichtert. Und als der Soldat einige Stunden später wieder unser Haus aufsucht, muss ich ihn nicht mehr begleiten.
Noch am selben Abend wird beschlossen, mich an einen sicheren Ort zu bringen. Im Jemen gibt es keine Heime für Mädchen wie mich. Ich kann ja nicht bei Abdel Wahed Wurzeln schlagen, der schon genügend Entgegenkommen gezeigt hat.
»Wer ist dein Lieblingsonkel?«, fragt mich einer der Richter.
Mein Lieblingsonkel? Wenn ich es mir recht überlege, fällt mir nur Shoyi ein, der Bruder von
Omma
, ein ehemaliger Soldat der jemenitischen Armee, groß und stämmig, inzwischen im Ruhestand, und er genießt eine gewisse Autorität in meiner Familie. Er wohnt in Beit
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