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Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden

Titel: Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nojoud Ali , mit Delphine Minoui
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schützte.
    »Aber wir müssen nach Khardji!«, entgegnete der Fahrer.
    »Pah, mit so einem Auto, soll das ein Witz sein?«
    »Und was nun?«
    »Das Beste ist, auf Esel umzusteigen!«
    »Auf Esel! Aber wir haben Frauen dabei. Das wird nicht gehen.«
    »Hören Sie, ich kann Ihnen die Dienste eines unserer Männer anbieten. Er ist es gewohnt, Leute hin- und herzutransportieren. Und sein Wagen hat die passenden Reifen. Er wechselt sie mindestens alle zwei Monate, so schlecht ist die Straße!«
    Also wurde beschlossen, ein anderes Auto zu nehmen. Während sich die Großen damit abmühten, die Bündel in das andere Fahrzeug umzuladen, nutzte ich die kleine Ruhepause und vertrat mir die Beine. Ich atmete tief ein und pumpte meine Lungen, so weit es ging, mit der klaren Bergluft auf. Ich war so verschwitzt, dass mein braunes Kleid, das ich immer noch unter meinem schwarzen Schleier trug, an mir klebte. Ich hob die Falten etwas an und näherte mich dem Abgrund. Wadi La’a! Tief unten, weit, sehr weit entfernt erkannte ich Wadi La’a, das Tal meines Heimatdorfes. Es hatte sich nicht verändert! Doch ich war noch sehr klein gewesen, als wir es verließen. Stiegen da meine Kindheitserinnerungen wieder in mir auf, gespeist von einigen kürzlich mit meinen Eltern unternommenen Reisen in diese Gegend? Oder die Erinnerungen aus den lose in ein Album geworfenen, vergilbten Fotos, die
Aba
von Zeit zu Zeit mit Tränen in den Augen betrachtete? Das Bild meines Großvaters kam mir in den Sinn. Ich hatte ihn ja so lieb, meinen
Jad
. Als er im vorigen Jahr gestorben war, hatte ich viel geweint. Er hatte immer einen weißen Turban um seinen Kopf gewickelt. Sein feiner, graumelierter Bart hob sich stark von seinen dunkelbraunen Augenbrauen ab. Zuweilen nahm er mich auf seine Knie und vergnügte sich damit, mich kopfüber nach hinten fallen zu lassen, um mich im letzten Moment aufzufangen. In seinen Armen fühlte ich mich unglaublich wohl. Ich hatte mich an den Gedanken gewöhnt, dass mein
Jad
, auch wenn die Welt um uns herum untergehen würde, immer an meiner Seite sein würde, um mich zu retten. Doch er musste zu früh gehen.
    »Nojoud! Nojoud!«
    Ich drehte mich um und fragte mich, wer mich da wohl rief. Es war eine wenig vertraute Stimme. Eine ungewöhnliche Klangfarbe, die sich für meine Ohren fremd anhörte. Nicht wie die von
Jad
, die ich jederzeit auch mit geschlossenen Augen erkannt hätte.
    Als ich den Kopf hob, begriff ich, dass er es war, mein unbekannter Mann, der mich das erste Mal seit unserer Abfahrt aus Sanaa ansprach. Ohne mich richtig anzusehen, verkündete er mir, dass es Zeit war, weiterzufahren. Ich nickte und ging auf unsere neue »Karosse« zu: ein rotweißer, völlig verrosteter Toyota Pick-up. Man ließ mich vorne mit meiner verschleierten Schwägerin einsteigen, zur Rechten des neuen Fahrers. Die Männer stiegen hinten auf die offene Ladefläche mit anderen Fahrgästen, die dieses Verkehrsmittel mitbenutzten.
    »Gut festhalten, gleich wird’s schaukeln!«, warnte der Fahrer.
    Bevor er losfuhr, stellte er seinen Radiorekorder auf höchste Lautstärke. Eine folkloristische Melodie schmetterte aus den Boxen, die genauso verrostet waren wie der Pick-up. Der wabernde
oud
und die Stimme des bei uns sehr bekannten Sängers Hussein Moheb verschmolzen bald mit den Stößen, die die riesigen, widerspenstigen Steine unter unserem Pick-up auslösten. Wir schaukelten nicht, wir hüpften in alle Richtungen! Mehrmals prallten Steine an unserer Windschutzscheibe ab. Ich hielt mich verkrampft an einem Griff fest und betete zu Allah, dass alles schön ganz bleibe, bis wir im Dorf ankämen.
    »Hör der Musik zu! Dann vergeht dir die Angst!«, meinte der Fahrer.
    Wenn der wüsste, was für eine Angst mich wirklich erfüllte …
    Wir fuhren stundenlang im Rhythmus von Hussein Mohebs Liebesklagen. Ich hätte zählen sollen, wie oft der Fahrer die Kassette wieder zurückspulte. Er war wie trunken von dieser Musik, und sie half ihm sicher, der Kraft der Natur standzuhalten. Wie ein Reiter an sein Pferd war er an sein Lenkrad geklammert und trotzte der kleinsten Kurve, indem er den Blick starr auf den gewundenen Weg heftete. Als kenne er alle Gefahren auswendig.
    »Die Natur, die Allah schuf, ist unerbittlich, aber zum Glück hat er Menschen geschaffen, die noch widerstandsfähiger sind!«, sagte er.
    Na ja, dachte ich, wenn er recht hatte, dann musste Allah mich vergessen haben.
    Je tiefer wir in das Tal hineinfuhren, desto dicker

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