Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Gedränge. Ich hatte mich von dieser fast übernatürlichen Welt ablenken lassen, die ich mit beiden Augen genüsslich in mich aufsog. Ich machte kehrt, um meine Tante wiederzufinden. Doch bald stellte ich fest, dass sich die Gassen alle ähnelten. Musste ich nun die nächste rechts abbiegen? Oder links? Verwirrt und schluchzend sank ich in die Knie. Ich war verloren. Nichts zu machen. Und es dauerte gut zwei Stunden, bis mich ein Händler bemerkte, der meine Tante kannte.
»Nojoud, wann hörst du endlich auf, so kopflos durch die Welt zu gehen?«, herrschte sie mich an und packte mich bei der Hand.
Verloren war ich auch am Tag nach meiner Hochzeit gewesen, als ich in dem unbequemen Geländewagen saß. Doch nun war die Welt um mich herum pure Wirklichkeit. Vorbei war es mit dem Zauber der Gewürze und den wohlwollenden Blicken der Händler, die den Kindern ihre warmen Krapfen zum Probieren anboten. Mein Leben nahm allmählich eine neue Wendung in dieser Welt der Großen, in der Träume keinen Platz mehr haben, in der alle Gesichter erstarrt sind und kein Mensch sich um mich schert.
Sobald die Hauptstadt hinter uns lag, verwandelte sich die Autobahn in ein langes Asphaltband, das sich zwischen Berg und Tal hindurchschlängelte. In jeder Kurve klammerte ich mich fest an den Haltegriff meines Sitzes. Mein Magen rebellierte und verkrampfte sich. Mehrmals musste ich mich kräftig kneifen, um meine Übelkeit zu unterdrücken. Lieber wäre ich gestorben, als das Monster darum zu bitten, mich am Straßenrand aussteigen zu lassen, um frische Luft zu schnappen. Ich musste durchhalten, also schluckte ich vorsichtig immer wieder und versuchte, dabei so wenige Geräusche wie möglich zu machen.
Um mich von der Umgebung abzukapseln, vertrieb ich mir die Zeit damit, die winzigsten Einzelheiten der Landschaft zu erfassen. Alte, verfallene Ruinen, die sich an Felsvorsprünge krallten. Kleine braune Häuser mit weißen Verzierungen, die mich entfernt an Bab al-Yemen erinnerten. Kakteen am Straßenrand, ausgetrocknete Passhöhen, die mit kleinen Parzellen Ackerland abwechselten, auf denen Ziegen und Kühe weideten. Auch Frauen waren zu sehen, die Gesichter mit Tüchern verhüllt, die sie auf Mundhöhe knoteten. Ich meinte auch, zwei überfahrene Katzen zu erkennen, doch kniff ich schnell die Augen zu, denn sie waren ein trauriger Anblick. Als ich sie wieder aufmachte, war unser Auto umgeben von einem Meer aus
kath
-Sträuchern. Rechts und links Grün, so weit das Auge reichte. Es war wunderschön! Eine sanfte Frische!
»Der
kath
, das ist unser Untergang. Der braucht so viel Wasser, dass wir bald alle in diesem Land vor Durst verrecken werden!«, rief der Fahrer.
Das Leben, dachte ich im Stillen, ist schon seltsam. Sogar schöne Dinge können Schaden anrichten. Nicht nur die Bösen säen Böses. Wie soll man da noch durchblicken.
Ein Stück weiter, zu meiner Rechten, erkannte ich schließlich Kokaban, ein kleines Dorf, das hoch oben auf einem Hügel direkt in den Fels gehauen war. Ich erinnerte mich, dass ich als kleines Kind mit meinen Eltern dort vorbeigekommen war, als wir zum
Aïdfest
in ein anderes Dorf unterwegs waren. Es heißt, die Frauen von Kokaban seien schön und schlank, weil sie jeden Morgen zur Feldarbeit den Berg hinabsteigen. Eine Stunde bergab. Und eine Stunde bergauf. Eine ganz schöne Leistung! Und wie tapfer von ihnen! Eine Stunde bergab. Und eine Stunde bergauf. Eine Stunde bergab. Und eine Stunde bergauf …
Das Brummen des Motors weckte mich und ließ mich aufschrecken. Wie viele Stunden hatte ich geschlafen? Wie viele Kilometer hatten wir schon zurückgelegt? Ich hatte keine Ahnung.
»Eins … zwei … und drei!«
An der Rückseite unseres Geländewagens drängte sich ein halbes Dutzend Männer um den Kofferraum und mühte sich mit voller Kraft, unser Fahrzeug anzuschieben, das in einem Erdloch festhing. Auf einer Tafel, die in eine von den Rädern aufgewirbelte Staubwolke gehüllt war, entzifferte ich mühsam den Namen des ausgetrockneten und öden Dorfes, in dem wir gelandet waren. Arjom. Offenbar hatten wir soeben die Hauptstraße verlassen und einen holprigen Weg voller Schlaglöcher eingeschlagen, der den Abgrund entlang in eine tiefe Schlucht führte. Das Auto saß tatsächlich fest.
»Drehen Sie besser um! Sie werden auf diesem Weg nie vorankommen, er wird immer schlechter«, rief ein Dorfbewohner, der sich ein rotweißes Tuch um den Kopf gewickelt hatte, das ihn vor dem Staub
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