Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
sich auch meine Schwestern wieder gezankt. Um Jamila zu retten, hat Mona schließlich das berühmte Papier unterzeichnet. Doch sie ist natürlich sauer darüber. Sie wirft ihr vor, die Familie entzweit zu haben. Zwischen ihnen wird es nie mehr so werden wie zuvor. Letztlich ist aber ihr Mann daran schuld. Manchmal denke ich, ich muss mit Fares sprechen und mir von ihm versprechen lassen, dass er ganz zärtlich ist, wenn er sich eines Tages verheiratet.
Ein Flugzeug zieht über den Himmel und hinterlässt einen langen, weißen Kondensstreifen. Es wird immer größer und größer, gleich landet es auf dem nahe gelegenen Flughafen. Ob es aus Frankreich kommt, oder aus Bahrain? Welches dieser Länder ist näher? Ich werde Shada fragen. Eines Tages werde ich auch fliegen, ich werde bis ans andere Ende der Welt reisen. In so ein Flugzeug sollen dreihundert Menschen reinpassen, habe ich gehört. Ein Nachbar, der neulich aus Saudi-Arabien zurückgekehrt ist, hat mir erzählt, drinnen sähe es aus wie in einem großen Wohnzimmer, man würde Zeitungen lesen und könne sich etwas zu essen bestellen. In einem Flugzeug essen alle mit richtigem Besteck. Wie in der »Bizzeria«!
Die helle Stimme der Lehrerin reißt mich aus meinen Gedanken: »Wer will uns die erste Sure des Korans aufsagen?«, fragt sie an die ganze Klasse gewandt.
Begeistert und mutig wie schon lange nicht mehr, strecke ich die Hand in die Luft, sehr hoch, damit alle mich sehen können. Komisch, diesmal habe ich mir vorher gar nicht überlegt, ob ich mich melden soll oder nicht. Ich habe mich nicht gefragt, was
Aba
darüber denkt oder was die Leute hinter meinem Rücken tuscheln mögen. Ich, Nojoud, zehn Jahre alt, ich habe mich entschieden, auf eine Frage zu antworten. Und diese Entscheidung hängt von niemand anderem ab.
»Nojoud?«, wiederholt die Lehrerin und schaut in meine Richtung.
Mein Eifer ist ihr nicht entgangen.
Ich hole tief Luft, erhebe mich von meiner Sitzbank und stelle mich kerzengerade auf. Ich suche in meinem Gedächtnis die Koranverse, die ich letztes Jahr gelernt habe:
»Im Namen Allahs, des Allerbarmers, des Barmherzigen!
Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn der Welten,
dem Allerbarmer, dem Barmherzigen,
dem Herrscher am Tage des Gerichts!
Dir allein dienen wir, und Dich allein bitten wir um Hilfe.
Führe uns den geraden Weg,
den Weg derer, denen Du Gnade erwiesen hast, nicht den Weg derer, die Deinen Zorn erregt haben, und nicht den Weg der Irregehenden.«
Feierliche Stille breitet sich im Klassenzimmer aus.
»Bravo, Nojoud. Gott möge dich beschützen!«, applaudiert mir die Lehrerin und ermuntert die anderen Schüler, einzustimmen. Ihre Augen wandern weiter durch die Klasse, auf der Suche nach der nächsten Kandidatin.
Lächelnd setze ich mich wieder hinter mein Pult.
Wenn ich mich umschaue, entfährt mir automatisch ein Seufzer der Erleichterung. In meiner grünweißen Uniform bin ich eine von fünfzig Schülerinnen der Klasse. Ich bin eine Schülerin im zweiten Schuljahr. Ich habe heute meinen ersten Schultag wie Tausende andere kleine Jemenitinnen. Wenn ich heute Nachmittag nach Hause komme, dann habe ich Hausaufgaben zu machen, Bilder zu malen.
Heute habe ich endlich das Gefühl, wieder ein kleines Mädchen geworden zu sein. Ein ganz normales Mädchen. Wie vorher. Ganz einfach.
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Epilog
N ojoud trägt ihr hübsches lila Kleid und lächelt nach rechts und links. Es wirkt ein wenig schüchtern, wie sie sich an die Hand von Shada klammert. Doch ihr Blick ist entschlossen.
»Noch ein Foto!«, rufen die Reporter.
Es ist der 10. November 2008, die jüngste Geschiedene der Welt wurde soeben in New York von der amerikanischen Frauenzeitschrift
Glamour
zur »Frau des Jahres« gekürt. Gerade einmal zehn Jahre alt, teilt sie diese überraschende Auszeichnung mit der Schauspielerin Nicole Kidman, der amerikanischen Außenministerin Condoleezza Rice und Senatorin Hillary Clinton! Ganz schön viel für die tapfere kleine Jemenitin, die so plötzlich vom unbekannten Opfer zur Heldin unserer Zeit geworden ist und die sich nichts sehnlicher wünscht, als wieder ein ganz normales Leben zu führen. Aber diesen Preis hat sie wahrhaftig verdient.
Nojoud hat gesiegt. Und sie ist stolz darauf. Das ist mir gleich an ihr aufgefallen, als ich sie im Juni 2008, zwei Jahre nach ihrer Scheidung, zum ersten Mal gesehen habe: ihre große Selbstsicherheit – der schwere Kampf hat sie reifer werden lassen, ihr allerdings auch
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