Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
viel von der Unschuld der Kindheit geraubt.
Wie eine Große hat sie mir am Telefon bis ins kleinste Detail den Weg zu ihrem bescheidenen Haus beschrieben, das mitten im Gewirr der staubigen Gässchen von Dares liegt, einem Viertel am Rand von Sanaa, der Hauptstadt des Jemen.
Sie erwartet mich zwischen den vielen Autos an der Tankstelle, in einen schwarzen Schleier gehüllt und in Begleitung ihrer kleinen Schwester Haïfa. »Ich bin beim Süßigkeitenstand«, hat sie mir gesagt und sich damit als kleines Leckermäulchen verraten. Eines mit Mandelaugen, einem Puppengesicht und einem süßen Lächeln – ein Mädchen wie alle anderen, das gerne Bonbons lutscht, sich einen großen Fernseher wünscht und mit seinen Geschwistern Blindekuh spielt. Aber sie ist auch schon eine richtige Persönlichkeit, gereift durch schwere Erfahrung – und dennoch lächelt sie, wenn die Frauen von Sanaa ihr im Vorübergehen laut und freudig »Mabrouk« zurufen, was so viel heißt wie »Alles Gute!«.
»Die Scheidung von Nojoud hat eine Tür aufgestoßen«, meint Husnia al-Kadri, die Leiterin der Abteilung für Frauenstudien an der Universität Sanaa. Eine von ihr durchgeführte Untersuchung hat vor kurzem ergeben, dass mehr als die Hälfte der Mädchen im Jemen vor ihrem achtzehnten Geburtstag verheiratet werden. [1]
Ja, man muss es so sagen: Nojouds Geschichte ist eine frohe Botschaft. Ihr unglaublicher Bravourakt hat in diesem Land der arabischen Halbinsel, in dem die Zwangsverheiratung kleiner Mädchen bislang als unumstößliche Tradition galt, auch anderen zarten Stimmen Mut gemacht, sich gegen ihre Ehemänner zu erheben. Nach dem Prozess von Nojoud haben zwei weitere Mädchen, Arwa, neun Jahre alt, und Rym, zwölf, es gewagt, sich gegen ihre barbarische Verheiratung zur Wehr zu setzen. Auch in Saudi-Arabien hat ein achtjähriges Mädchen, das von seinem Vater einem Fünfzigjährigen zur Frau gegeben worden war, ein Jahr nach dem Drama von Nojoud eine Scheidung erreicht – eine Sensation in Jemens ultratraditionellem Nachbarstaat!
Im Februar 2009 errangen die Frauen im Jemen einen weiteren Sieg: Unter dem Druck örtlicher Frauenrechtsverbände hat das Parlament endlich in eine Reform des Eherechts eingewilligt. Das Mindestalter für die Eheschließung wurde, für Mädchen wie Jungen gleichermaßen, auf 17 Jahre angehoben. Das Gesetz verlangt jetzt auch, unabhängig vom Alter, die Zustimmung der zukünftigen Ehefrau. Und falls doch vom Mindestalter abgewichen wird – die Tradition forderte ihr Recht –, so muss der Ehevertrag zwingend von einem Richter unterzeichnet werden. Für den Fall einer Scheidung ist nun gesetzlich geregelt, dass die Kinder bis zum zwölften Lebensjahr bei der Mutter bleiben. Und nimmt sich ein Mann eine weitere Ehefrau, so ist er fortan verpflichtet, seine erste davon zu informieren. Die Polygamie wurde etwas eingeschränkt, ein Mann darf nur noch dann mehrere Ehefrauen nehmen, wenn er über ein gewisses Vermögen verfügt – damit sollen unübersichtlich verflochtene Familien wie die von Nojoud verhindert werden, in denen oft niemand die Mittel aufbringen kann, für die Kinder zu sorgen. Kleine Fortschritte, gewiss. Und es wird noch einige Zeit brauchen, ehe sie ihre volle Wirkung entfalten und die Verhältnisse sich wirklich ändern.
Nojoud ist die Tragweite ihrer Tat vielleicht noch nicht voll bewusst: Sie hat es geschafft, ein Tabuthema ans Licht der Öffentlichkeit zu bringen. Die Nachricht von ihrer Scheidung hat sich um die ganze Welt verbreitet und das Schweigen gebrochen, das über dieser Sitte liegt, die leider in vielen Ländern verbreitet ist: Ägypten, Indien, Iran, Mali, Pakistan …
Dass uns Nojouds Schicksal so berührt, liegt aber auch daran, dass wir selbst ebenso betroffen sind. Sosehr es im Westen zum guten Ton gehören mag, sich über das Los der Frauen im Islam zu entrüsten: Die Zwangsverheiratung von Mädchen und Gewalt in der Ehe sind Probleme, die sich nicht auf die islamische Welt beschränken. Noch unsere Urgroßmütter wurden in Ländern wie Frankreich, Spanien oder auch Italien nicht selten sehr jung verheiratet, auch im Westen werden bis heute Frauen von ihren Ehemännern misshandelt. Und in den USA konnte Warren Jeffs, der Führer einer Mormonensekte, noch bis vor kurzem die Trauung von vierzehnjährigen Mädchen durchführen, ehe er 2006 schließlich verhaftet wurde.
Doch es ist nicht der Glaube allein, der jemenitische Väter dazu veranlasst, ihre
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