Ich, Nojoud, zehn Jahre, geschieden
Nojoud?
«
Ihre Stimme ist zugleich sanft und bestimmt. Sie bittet uns, ihr ins Büro zu folgen, das am Ende des Hofes liegt. Ein rotes Tischtuch und ein Blumentopf aus Plastik schmücken den Tisch, an dem wir uns niederlassen. An der Wand hängt ein großes Bild des Präsidenten Ali Abdallah al-Salih. Eine Sekretärin tippt an einem Schreibtisch auf einer Computertastatur herum. Als die Tür geschlossen ist, lüftet Njala Matri den
niqab
, der ihr Gesicht verhüllt. Wie schön sie ist! Sie hat blaugraue Augen, und ihre Haut ist so weiß wie Milch.
»Willkommen bei uns, Nojoud. Betrachte die Schule als dein Zuhause.«
Ich fange an, mich ein wenig zu entspannen. Sie erklärt uns, dass die Schule hauptsächlich durch Spenden der Bewohner des Viertels finanziert wird und ungefähr 500 Schülerinnen hat. In jeder Klasse gibt es vierzig bis fünfzig Kinder. Die Lehrerinnen gehen hier auf die Mädchen ein, sagt sie, und man kann sogar am Ende der Stunde zu ihnen hingehen und ihnen persönliche Fragen stellen.
Beim Zuhören wird mir immer leichter ums Herz. Und ich habe gedacht, ich könnte nie mehr in die Schule zurück. Es hatte allerdings auch eine Lehrerin gegeben, die zunächst gegen meine Aufnahme war:
»Sie müssen verstehen, sie ist kein Mädchen wie die anderen … ähm … sie hatte Beziehungen … ähm … mit einem Mann. Das könnte einen negativen Einfluss auf ihre Klassenkameradinnen haben«, hat sie Shada zugeflüstert, als wir das erste Mal hier waren.
So hat Shada zunächst andere Möglichkeiten erkundet, die zwar auch sehr reizvoll, in ihren Augen aber zu extravagant waren: eine Schule im Ausland, finanziert von einer internationalen Hilfsorganisation, oder auch eine der Privatschulen von Sanaa, wo die Mädchen schicke Kleider tragen und sich die Fingernägel lackieren. Aber war ich dafür wirklich geschaffen? War ich wirklich dazu bereit, meine Familie zu verlassen, Haïfa vor allem? Nein, nicht jetzt. Noch nicht. So habe ich mich schließlich für die Nachbarschule von Rawdha entschieden. Ich hatte es satt, immer als etwas Besonderes betrachtet zu werden. Ich wollte wie alle anderen behandelt werden. So wie meine kleine Schwester.
»Hiiiiiiiiiii Nojoud! Oh, you are sooooooo cute!«
Für heute hat das nicht geklappt! Mitten auf dem Hof steht eine Frau mit blauen Augen und breiten Schultern. Ungeschickt hat sie ein blasslila Kopftuch über ihre kurzen Haare gelegt. Sie wird von Schülerinnen umringt und gestikuliert in alle Richtungen. Sie spricht laut, doch die Worte, die aus ihrem Mund dringen, sind für mich unverständliches Kauderwelsch. Eine ausländische Sprache, zweifelsohne. Meint sie etwa, dass hier ein Zoo ist? Shada erklärt mir, dass sie für »Glamour«, ein großes amerikanisches Frauenmagazin, arbeitet. Sie ist nur wegen mir in den Jemen gekommen! Das heißt, dass ich schon wieder meine Geschichte erzählen soll. Wieder und wieder. Beim bloßen Gedanken an all die persönlichen Fragen, die zu beantworten mir immer so schwerfällt, erstarrt mein Gesicht. Und die Angst, die ich endlich begraben will, steigt wieder aus dem Grund meines Herzens auf.
Da ertönt die Schulglocke. Gerettet! Einen Stab in der Hand gibt uns Najmiya, eine der Lehrerinnen, das Zeichen, uns an der Mauer aufzustellen. Ich beeile mich, ihren Anordnungen zu folgen. Dann sollen wir uns in die hölzernen Schulbänke setzen, die in zwei Reihen den Klassenraum einnehmen. Ich entscheide mich für einen Platz am Fenster. Weder ganz vorne noch ganz hinten. In der dritten Reihe, um genau zu sein, neben zwei neuen Mitschülerinnen, deren Vornamen ich noch nicht kenne. Ich hefte den Blick auf die Tafel und versuche, die Schriftzeichen zu entziffern, die die Lehrerin mit weißer Kreide anschreibt. »Ra-ma-dan Kar-im.«
Ramadan Karim! – »Fröhlicher Ramadan!«
Wie ein Puzzle setzt sich das Wort für mich zusammen. Und mein Herz schlägt endlich wieder normal.
Während die Lehrerin uns dazu auffordert, die Nationalhymne zu rezitieren, wird meine Aufmerksamkeit auf einmal vom Geräusch der umgeblätterten Seiten abgelenkt. Das Geräusch der Schule. Das echte Geräusch der Schule, endlich habe ich es wiedergefunden!
Einen Moment lang bleibe ich in Gedanken bei einer Geschichte hängen, die die Direktorin gerade erzählt hat: »Letztes Jahr ist eine unserer Schülerinnen von einem Tag auf den anderen nicht mehr in der Schule erschienen. Einfach so, ohne einen Grund anzugeben. Am Anfang habe ich noch gedacht, sie würde
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