Ich schlage vor, dass wir uns küssen (German Edition)
ebenfalls kontrolliert werden mußte, daß da die richtigen Marken an den vorgesehenen Stellen klebten.
»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser«, war ein geflügeltes Wort, ein Lenin-Zitat.
In jedem Haus gab’s einen Hausbuchführer, der kontrollierte, ob das Familienleben in Ordnung war, man regelmäßig arbeiten ging und vielleicht Westbesuch hatte. Noch in den siebziger Jahren wurde kontrolliert, welche Kleidung man trug, welche Frisur man hatte, mit welcher Tasche man einkaufen ging und in welche Richtung die Fernsehantenne auf dem Dach zeigte.
Arbeitskollektive, Brigaden, Parteigruppen kontrollierten, ob man an sogenannten »gesellschaftlichen Aktivitäten« teilnahm, ob die Ehe funktionierte und ob man an Feiertagen die richtige Fahne aus dem Fenster hängte und in die eigens dafür vorgesehene Fahnenhalterung steckte. Wenn nicht, hatte man »persönliche Probleme«, die ebenfalls einer Kontrolle bedurften. Kontrolliert wurde, wer an Versammlungen, Appellen und Demonstrationen teilnahm, welche Schilder hochgehalten wurden, wer sich zu Wort meldete, wer nicht und wer vor drei Jahren etwas völlig anderes gesagt hatte.
Die Leute im Alltag kontrollierten auf ihre Weise ebenfalls alles mögliche: in den Läden und Kaufhallen, was es zu kaufen gab, in der Zeitung, ob da etwas zwischen den Zeilen stand, bei den Werken von Marx-Engels-Lenin, ob da nicht Fußnoten waren, die ein ganz neues Licht auf den Sozialismus warfen, und im Bekanntenkreis, ob jemand mit Beziehungen existierte, der einen kennt, der weiß, wie man an Klempner herankommt.
Daß die Stasi auch noch herumkontrollierte, fiel eigentlich kaum ins Gewicht beziehungsweise störte nicht weiter.
Ich merkte jedenfalls nichts oder wollte nichts merken, hätte vielleicht auch nichts merken können, und wenn doch, dann wär’s auch egal gewesen. Was hatte ich denn zu verbergen? Offenbar eine Menge.
Im Wörterbuch der Staatssicherheit ist zu lesen: »OPK, Operative Personenkontrolle – Operativer Prozeß zur Klärung operativ bedeutsamer Anhaltspunkte. Erarbeitung des Verdachts der Begehung von Verbrechen gemäß erstem oder zweitem Kapitel des Strafgesetzbuches oder einer Straftat der allgemeinen Kriminalität, die einen hohen Grad an Gesellschaftsgefährlichkeit hat und in enger Beziehung zu den Staatsverbrechen steht bzw. für deren Herausarbeitung das MfS zuständig ist.«
Staatsverbrechen also.
Operativ bedeutsame natürlich.
Auch wenn der Verdacht der Begehung gemäß der Zuständigkeit des hohen Grades an Gesellschaftsgefährlichkeit erst durch den Prozeß der Klärung der Erarbeitung herausoperiert werden mußte.
Mein Entzücken hält sich in Grenzen. Sicher, Staatsverbrecher wird man nicht alle Tage, aber zuviel sollte ich mir nicht einbilden. Falls ich nichts übersehe, müssen mit Staatsverbrechen meine mit siebzehn verfaßten Liebesbriefe gemeint gewesen sein sowie die paar harmlosen Gedichte, die niemand kannte.
Okay, es gab die »Gruppe 61«. Mit dem 13. August 1961, dem Tag des Mauerbaus in Berlin, wie die Stasi vermutete, hatte sie aber nichts zu tun. Auch nichts mit der »Charta 77«, der tschechoslowakischen Bürgerrechtsbewegung um Vaclav Havel, nichts mit der 68er-Bewegung in der westlichen Welt, nichts mit der Gruppe der Zwölf, mit der Jesus seinerzeit durch die Gegend zog.
Die »Gruppe 61« bildete sich Anfang der achtziger Jahre. Ihre Gründungsmitglieder waren das Meerschwein Hugo meiner Schwester, eine alte Standuhr und ich.
Dreißig Jahre danach kann ich zugeben, daß ich Hugo und die Standuhr ohne ihr Wissen in die Gruppendynamik hineingezogen habe. Sie sind unschuldig und inzwischen tot und kaputt.
Im Grunde war sie nur ein Wort, eine Metapher, ein poetischer Tarnname – denn »Gruppe 61« stand für nichts anderes als für das zu schnelle Vergehen der Zeit. Bei den wenigen Gelegenheiten, wo wir uns treffen konnten, Liane und ich, rasten die Stunden dahin. Wir schauten immer wieder verzweifelt auf die Uhr. Nach fünf Minuten waren schon wieder zwei Stunden vergangen. Um zwölf mußte sie über die Grenze, und wir sahen uns anderthalb Jahre nicht.
Da hatte ich das, was man eine rettende Idee nennt. Ich versprach Liane, daß ich eine Gruppe gründen würde, deren Ziel es sei, für die Verlängerung der Zeit zu kämpfen.
Sie war sehr einverstanden und fragte mich, wie das gehen solle.
»Ganz einfach«, sagte ich. »Wir verlängern die Minute um eine Sekunde. Das merkt niemand, aber mit der Zeit kommt einige Zeit
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