Ich schreib dir morgen wieder
als wäre ich die letzten Tage durch ein nebliges Tal geirrt, in dem ich nicht weiter als bis zu meiner Nasenspitze sehen konnte. Doch jetzt begann der Nebel sich zu lichten. Mein Kopf war die ganze Zeit so beschäftigt gewesen, dass er sich auf nichts richtig hatte konzentrieren können, aber nun war die Angelegenheit anscheinend erledigt, denn ich saß hellwach im Bett, mein Herz klopfte, und ich war so atemlos, als wäre ich meilenweit gerannt. Ich brannte darauf herauszufinden, was Rosaleen in der Speisekammer gemacht hatte – beziehungsweise, was sie morgen früh dort machen würde.
Ich war mitten im Pläneschmieden, als ich hörte, wie Mums Zimmertür geöffnet wurde. Schnell legte ich mich hin und schloss die Augen. Offenbar war ihr bewusst, dass sie leise sein musste, denn sie machte die Tür sehr vorsichtig wieder zu. Dann saß sie auf meiner Bettkante, und ich wartete, dass ihre Hand sich auf meine Schulter legte. Da war sie auch schon. Und drückte meinen Arm.
Ich schlug die Augen auf, natürlich ohne die Panik, die ich im Tagebuch beschrieben hatte. Schließlich war ich ja auf Mums Besuch vorbereitet.
»Wo hast du das her?«, flüsterte sie, ihr Gesicht dicht an meinem.
Ich setzte mich auf.
»Von drüben, beim Bungalow«, antwortete ich ebenfalls flüsternd.
»Rosaleens Haus«, flüsterte sie und schaute aus dem Fenster. »Das Licht«, fuhr sie fort, und in diesem Moment bemerkte ich den hellen Schimmer auf der Wand gegenüber von meinem Fenster. Als würde der Mond durch die schwankenden Äste der Bäume scheinen, so kam und ging er, leuchtete und verschwand wieder. Aber es war nicht der Mond, sondern ein Glitzern, wie von Glas, in dem sich das Licht in vielfarbigen Prismen brach. Es reflektierte auf Mums blassem Gesicht und schien sie in eine Art andächtige Trance zu versetzen. Neugierig schaute ich zum Bungalow hinüber. Dort hing tatsächlich ein Glasmobile im Fenster, von dem das Licht ausging, aufblitzte und erlosch wie der Strahl eines Leuchtturms.
»Da drüben gibt es noch viele Hunderte von dieser Sorte«, flüsterte ich. »Ich hätte eigentlich nicht hingehen dürfen, aber …« In diesem Moment hörten wir die Bettfedern in Rosaleens und Arthurs Schlafzimmer quietschen. »… aber Rosaleen hat immer so geheimnisvoll getan. Dabei wollte ich einfach nur mal ihrer Mutter guten Tag sagen, nichts weiter. Vor zwei Wochen hab ich ihr ein Frühstückstablett rübergebracht, ohne Rosaleen etwas davon zu sagen. Dabei hab ich jemanden in dem Schuppen gesehen, hinten im Garten. Aber ich glaube nicht, dass das Rosaleens Mutter war.«
»Wer denn sonst?«
»Keine Ahnung. Eine Frau. Eine alte Frau mit langen verfilzten Haaren. Sie hat in dem Schuppen gearbeitet. Ich denke, sie macht die Mobiles.« Ich schaute auf die Glasträne in ihrer Hand. »Es gab Hunderte davon, alle an Wäscheleinen aufgehängt. Ich kann sie dir gerne zeigen. Als ich dann zurück bin, um das Tablett wieder abzuholen, da stand es schon draußen auf der Gartenmauer. Und das da lag auf einem Teller.«
Wir sahen beide stumm auf die Glasträne.
»Was hat das zu bedeuten?«, brach ich das Schweigen nach einer Weile.
»Weiß sie es?«, fragte Mum, ohne meine Frage zu beantworten.
Ich ging davon aus, dass sie Rosaleen meinte. »Nein. Was geht da vor?«
Mum kniff die Augen zusammen und legte die Hand darüber. Dann rieb sie sich heftig das Gesicht und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare, wie jemand, der aufzuwachen versucht.
»Tut mir leid, aber ich fühle mich immer so benommen. Irgendwie kann ich einfach nicht richtig … nicht richtig aufwachen«, erklärte sie und rieb sich erneut die Augen. Dann strahlte sie plötzlich, sah mich zärtlich an und küsste mich auf die Stirn. »Ich liebe dich, mein Schätzchen. Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
Aber die Frage erreichte nur noch ihren Rücken, denn sie war bereits aufgestanden und verließ leise mein Zimmer. Ich schaute aus dem Fenster zu dem Licht, das sich drehte und tanzte, als würde es von innen angeblasen. Während ich mich noch darauf konzentrierte, bewegte sich plötzlich der Vorhang, und ich begriff, dass jemand mich – oder uns – beobachtet hatte.
Dann hörte ich, wie eine Tür aufging, Schritte näherten sich auf dem Korridor, und Rosaleen erschien, eine gespenstische Vision in Weiß.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Nichts«, antwortete ich, den Vorgaben des Tagebuchs folgend.
»Ich hab eine Tür gehört.«
»Keine Ahnung.«
Sie starrte
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