Ich schreib dir morgen wieder
reagierte Rosaleen, als hätte ich ihr einen Schlag in den Magen verpasst.
»Schon gut, ich nehm mir was davon«, sagte Arthur, und ich hatte das Gefühl, dass auch er hauptsächlich Rosaleen eine Freude machen wollte.
Mit geröteten Wangen fahndete sie in der Schublade nach einer zweiten Tupperdose.
»Es schmeckt wirklich lecker, Rosaleen, ganz ehrlich, ich kann nur morgens nicht so viel essen.« Wie konnte man bloß so ein Theater um das Frühstück machen?
»Natürlich, klar.« Sie nickte nachdrücklich, als hätte sie es eigentlich gleich kapieren sollen. Dann beförderte sie mit ein paar geübten Handgriffen die Reste meines Frühstücks in die kleine Plastikschachtel. Arthur nahm sie entgegen und verschwand.
Während ich am Tisch sitzen blieb und mich durch die dreitausend Scheiben Toast arbeitete, mit denen man leicht das Schloss hätte neu aufbauen können, holte Rosaleen das Tablett aus dem Zimmer meiner Mum. Das Essen war unberührt. Mit gesenktem Kopf trug Rosaleen alles zum Mülleimer und begann die Teller abzukratzen. Nach der Szene vorhin war mir klar, dass ihr das nicht leichtfiel.
»Wir sind einfach keine Frühstücksmenschen«, erklärte ich, so freundlich ich konnte. »Normalerweise pfeift Mum sich morgens bloß schnell einen Müsliriegel und eine Tasse Espresso rein.«
Rosaleen spitzte die Ohren und drehte sich interessiert zu mir um. Gespräche übers Essen interessierten sie immer. »Einen Müsliriegel?«
»Du weißt schon, so ein Riegel mit Körnern und Rosinen und Joghurt und allem.«
»Wie das hier?«, fragte sie und deutete auf eine Schale mit Müsli und Rosinen und ein Schüsselchen Joghurt.
»Ja, genau … nur eben als Riegel.«
»Aber wo ist dann der Unterschied?«
»Na ja, in einen Riegel beißt man einfach rein.«
Rosaleen runzelte die Stirn.
»Das geht schneller. Man kann ihn nebenbei knabbern«, erläuterte ich weiter. »Während man im Auto zur Arbeit fährt oder losrennt, um nicht zu spät zu kommen, weißt du?«
»Aber das ist doch gar kein richtiges Frühstück, oder? Ein Riegel im Auto.«
Ich gab mir alle Mühe, mir das Lachen zu verkneifen. »Es ist ja auch bloß, na ja, weißt du … so kann man Zeit sparen, wenn man morgens knapp dran ist.«
Jetzt glotzte Rosaleen mich an, als hätte ich zehn Köpfe. Aber sie sagte nichts, sondern wandte sich nach einer Weile wortlos ab und fing an, die Küche aufzuräumen.
»Was hältst du eigentlich von Mums Zustand?«, fragte ich nach langem Schweigen.
Rosaleen wischte die Arbeitsfläche ab, ohne sich zu mir umzudrehen.
»Rosaleen? Was denkst du, wie es meiner Mum geht?«
»Sie trauert, Kind«, antwortete sie.
»Aber ich kann mir nicht vorstellen, dass das die richtige Art zu trauern ist. Du etwa? Zu denken, dass ein Elefant im Zimmer ist?«
»Ah, da hat sie dich bestimmt nur missverstanden«, entgegnete sie leichthin. »Wahrscheinlich war sie einfach mit dem Kopf woanders.«
»Ja, in Wolkenkuckucksheim«, murmelte ich.
Ständig werfen die Leute mit irgendwelchen schlauen Bemerkungen über das Trauern um sich, als wäre ich von gestern und wüsste nicht, dass es schwer ist, einen Menschen zu verlieren, mit dem man in den letzten zwanzig Jahren jeden Tag seines Lebens verbracht hat. Ich habe seit Dads Tod viel über Trauer gehört, und es heißt immer, dass es keine richtige Methode zu trauern gibt, und deshalb auch keine falsche. Aber ich weiß nicht, ob ich das glauben soll. Ich denke nämlich, dass Mums Art zu trauern nicht richtig ist. Das englische Wort für Trauer –
grief –
stammt von dem altfranzösischen Wort
grève
ab, was »schwere Last« bedeutet. Die Vorstellung dahinter ist, dass man an der Trauer mit all den dazugehörigen Gefühlen schwer zu tragen hat. Genauso fühle ich mich auch: wie Blei, als könnte ich mich nur mühsam fortbewegen, alles ist anstrengend, dunkel und beschissen. Es ist, als wäre mein Kopf ständig angefüllt mit Gedanken, die ich vorher niemals hatte, und davon bekomme ich Kopfweh. Aber Mum …?
Mum scheint irgendwie leichter geworden zu sein. Die Trauer drückt sie nicht zu Boden, im Gegenteil: Mum wirkt, als könnte sie jeden Moment abheben und wegfliegen, als wäre sie schon halb in der Luft. Aber keiner merkt was davon, oder es ist ihnen egal. Aber ich stehe direkt unter ihr, ich sehe ihre Knöchel über mir schweben. Und ich bin die Einzige, die versucht, sie wieder runterzuholen.
Kapitel 6
Der Bücherbus
Die Küche war aufgeräumt, gewischt und gewienert, alles
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