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Ich schreib dir morgen wieder

Titel: Ich schreib dir morgen wieder Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cecilia Ahern
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Trauer stieß – darüber, wie man lernt, mit der eigenen Trauer umzugehen oder auch mit einer geliebten Person, die trauert –, blieb ich eine ganze Weile mit klopfendem Herzen davor stehen, als hätte ich einen magischen Impfstoff entdeckt, der einen gegen alle Krankheiten der Welt immun macht. Aber ich brachte es nicht über mich, das Buch aus dem Regal zu ziehen – keine Ahnung, warum. Vielleicht wollte ich nicht, dass Marcus es sah und mich danach fragte. Ich wollte ihm nicht von Dads Tod erzählen. Denn dann wäre ich genau die Person gewesen, die ich war. Ein Mädchen, dessen Vater sich umgebracht hatte. So jemand wollte ich nicht sein. Wenn ich es ihm nicht erzählte, gab es dieses Mädchen nicht. Jedenfalls nicht für ihn. Sondern nur in meinem Innern. Ich würde den Zorn dieses Mädchens in mir spüren, wie er unter meiner Haut blubberte, aber ich konnte nach Mexiko fliegen und dieses Mädchen im Torhaus zurücklassen.
    Dann fiel mein Blick auf einen großen in Leder gebundenen Band in der Sachbuchabteilung. Braun, dick, kein Name und kein Titel auf dem Buchrücken. Ich zog das Buch heraus. Es war schwer. Die Seiten waren an den Ecken ausgefranst, als hätte man sie aufgeschnitten.
    »Dann bist du also so eine Art Robin Hood der Buchwelt?«, sagte ich, als die alte Frau mit einem flotten Liebesroman unter dem Arm wieder abgezogen war. »Du bringst die Bücher zu den Menschen, die keine haben.«
    »Irgendwie schon. Was hast du da?«
    »Keine Ahnung, es hat keinen Titel vornedrauf.«
    »Versuch es mal am Rücken.«
    »Da steht auch nichts.«
    Er nahm den Ordner, der neben ihm lag, leckte sich den Finger und blätterte ein paar Seiten um. »Wie heißt der Autor?«
    »Da steht nirgends ein Name.«
    Marcus runzelte die Stirn und blickte auf. »Unmöglich. Schlag es auf und schau auf die erste Seite.«
    »Kann ich nicht«, lachte ich. »Es ist verschlossen.«
    »Ach, komm schon«, grinste er. »Du nimmst mich auf den Arm, Goodwin.«
    »Nein«, versicherte ich und ging mit dem Buch zu ihm. »Ehrlich, sieh es dir selbst an.«
    Ich gab ihm das Buch, und als unsere Finger sich berührten, durchzuckte ein seismisches Prickeln sämtliche erogenen Zonen meines Körpers.
    Das Buch war mit einer goldenen Schnalle verschlossen, an der ein kleines goldenes Schloss hing.
    »Was zum Teufel …?«, stieß Marcus hervor und ruckelte an dem Schloss, wobei er das Gesicht so komisch verzog, dass ich laut lachen musste. »Typisch, dass du ausgerechnet das einzige Buch hier drin aussuchst, das weder einen Autor noch einen Titel hat und außerdem auch noch abgeschlossen ist.«
    Auch er fing an zu lachen, gab seine Versuche mit dem Schloss auf, und auf einmal trafen sich unsere Blicke.
    Das war der Moment, in dem ich hätte sagen müssen: »Ich bin übrigens erst sechzehn.« Aber ich konnte nicht. Es war unmöglich. Ich habe es euch ja schon gesagt – ich fühlte mich älter. Außerdem bekam ich sowieso schon dauernd zu hören, dass ich älter aussah. Ich wollte auch älter sein. Es war ja nicht so, dass Marcus und ich vorhatten, augenblicklich Sex auf dem Fußboden zu haben, und es war auch nicht strafbar, dass er mich anstarrte. Aber trotzdem. Ich hätte es sagen sollen. Wenn wir uns in einem alten Buch befunden hätten, in einem Roman, der im 19. Jahrhundert spielte – im Stil von
Vom Winde verweht
, als die Männer die Frauen als ihren Besitz ansahen und die Frauen sich nicht dagegen wehren konnten –, hätte es keine Rolle gespielt. Wir hätten uns irgendwo in einer Scheune im Heu vergnügen und tun können, was wir wollten, ohne dass jemandem deswegen Vorwürfe gemacht worden wären. Am liebsten hätte ich sofort so ein Buch vom Regal geholt, es aufgeklappt und wäre mit Marcus hineingestiegen. Aber wir lebten im 21. Jahrhundert, ich war sechzehn – fast siebzehn –, und er war zweiundzwanzig. Ich hatte es auf seinem Ausweis gesehen. Und ich wusste aus Erfahrung, dass das Interesse eines Jungen nicht unbedingt bis zu meinem nächsten Geburtstag anhielt. Es war selten, dass einer bereit war, bis Juli zu warten.
    »Mach nicht so ein trauriges Gesicht«, sagte Marcus, streckte die Hand aus und hob mit dem Finger mein Kinn. Ich hatte gar nicht gemerkt, dass er mir so nahe war, aber da stand er nun, direkt vor mir. Unsere Zehen berührten sich.
    »Es ist doch nur … ein Buch.«
    Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich das Buch mit beiden Armen an mich drückte.
    »Aber ich mag dieses Buch«, lächelte ich.
    »Ich

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